Manchmal fällt es mir schwer, still zu bleiben

Besonders dann, wenn im Fernsehen mal wieder eine populär-wissenschaftliche Sendung lief und ich mitbekomme, wie der Inhalt der Sendung über Tage durchs Großraumbüro schwappt und sich dabei immer mehr verändert, weil manche Sachen halt doch nicht immer und für Alle so einfach sind, dass man sie so nebenbei versteht.

Und ich meine damit nicht mal Sendungen wie

„Galileo special – Jumbo Schreiner hat Lieferheld fertiggespielt“

da ist schon das Original zum davonlaufen.

Es gibt auch im öffentlich-rechtlichen Fernsehen ab und zu mal Sendungen, mit denen man vermutlich die Gebühren rechtfertigen möchte, ohne auf „Sturm der Liebe“, „Rote Rosen“ oder „Herzflimmern – die Klinik am See“ zurückgreifen zu müssen.

Beginnen möchte ich mit einem Zitat von Einstein

Mache die Dinge so einfach wie möglich – aber nicht einfacher.

dem ich ein Zitat von Friedrich Nietzsche gegenüberstellen möchte

Das Halbwissen ist siegreicher als das Ganzwissen: es kennt die Dinge einfacher als sie sind und macht daher seine Meinung fasslicher und überzeugender.

Ich bin von meinem Wesen her ja grundsätzlich eher bei Nietzsche als bei Einstein, aber es sollte dann zumindest Halbwissen sein und nicht nur die Aneinanderreihung von Fachworten, gepaart mit einem
„WIR WERDEN ALLE STERBEN“
in Großbuchstaben.

Ich habe mich beim Thema „Hamsterkäufe und Zivilschutz“ noch mühsam zurückgehalten, weil es nichts bringt einzuwerfen, dass die Konzepte dazu weder neu sind noch wirklich unsinnig. Ich lebe in Deutschland.
Ich weiß, dass man einem Großteil meiner Mitbürgerinnen und Mitbürger das Denken so erfolgreich abgewöhnt hat, dass sie einen Online-Rechner brauchen um ausrechnen zu können, wie viel sie denn innerhalb eines Zeitraums von 14 Tagen trinken und essen und dass sie Checklisten benötigen, auf denen die Nahrungsmittel stehen, die prinzipiell dazu geeignet sind, über einen längeren Zeitraum bevorratet zu werden und zwar auch dann, wenn die Tiefkühltruhe mal keinen Strom hat. Wer glaubt, dass ich übertreibe bekommt jetzt einen Screenshot aus dieser Checkliste1:

notfall

Ich schwanke bei solchen Sätzen ja immer zwischen einem „Ach was“ von Loriot und einem „Nein! doch! Oh!“ von de Funès. Aber vermutlich gibt es wirklich ausreichend Menschen, die diesen Hinweis benötigen, genau so wie den Einleitungssatz der Checkliste, der da lautet:

„Berücksichtigen Sie bei Ihrer Planung persönliche Vorlieben, Diät-Vorschriften und Allergien.“

Sonst würden sie womöglich Reis kaufen, obwohl sie den gar nicht mögen, oder Nudeln obwohl sie eine Glutenallergie haben.

Ich trete übrigens trotzdem noch für ein allgemeines Wahlrecht ein, auch wenn mir das in letzter Zeit zunehmend schwerer fällt.

Anscheinend kamen in letzter Zeit einige Sendungen über Zucker. Irgendeine Redaktion hat das Thema mal wieder entdeckt und dann wird es gemolken, bis die nächste Sau am Horizont erscheint, die durchs Dorf gejagt werden möchte. Das wäre mir prinzipiell egal, wenn man mich in der Pause dann nicht ständig auf den Zuckergehalt meines Kaffees ansprechen würde, zusammen mit dem Hinweis, dass das alles so gefährlich wäre und dass ich sterben müsse. STERBEN!

Ich bin mir bewusst, dass alles Seiende endlich ist und damit auch ich. Das würde die Leute aber nur verwirren, deshalb erwähne ich es am Anfang solcher Diskussionen auch nicht. Ich halte mich auch zurück, wenn man mir erklärt, dass früher alles besser war. Ein Hinweis auf die extrem gestiegene Lebenserwartung in den letzten 150 Jahren (bei Frauen immerhin von 38 Jahren auf knapp 83 Jahre) oder die Tatsache, dass vor 180 Jahren ungefähr 1 Million Iren jämmerlich verhungert sind und weitere 2,5 Millionen auswandern mussten, hilft auch nicht unbedingt weiter, weshalb ich das auch oft unerwähnt lasse. Es geht schließlich um meinen Zucker im Kaffee. Und der wird mich umbringen. Weil der ist ja schädlich. Und dann fangen sie an, die unglaublich vereinfachenden und größtenteils sachlich falschen Erklärungen. Ist natürlich auch kompliziert, das alles mit seinen Einfach- und Mehrfachzuckern, den diversen biologischen Regelkreisen und den ganzen lateinischen Fachworten. Und dabei hat der im Fernsehen das doch so schön mit bunten Bildchen erklärt und außerdem sind die Amis alle so fett, weil die ja nur noch junk-food essen und alles überzuckert ist, weil da Glucosesirup drin ist.

Mittlerweile lasse ich es sein darauf hinzuweisen, dass Koinzidenz, Korrelation und Kausalität zwar mit dem gleichen Buchstaben anfangen, aber trotzdem unterschiedliche Sachverhalte beschreiben und das mit dem gleichen Anfangs-Buchstaben nur eine Koinzidenz ist.

Ich werde meinen Kaffee (200ml) weiterhin mit 5 Stück Würfelzucker trinken, was einem Zuckeranteil von ca. 7% entspricht.

Die Insulinantwort meines Körpers ist im Gegensatz zur Idiotenantwort meines Kopfes nämlich noch völlig in Ordnung.

  1. hier gibt es die komplette Liste obwohl ich mir sicher bin, dass die Leserinnen und Leser dieses Blogs über genug eigenständiges Denkvermögen verfügen, dass sie sie nicht brauchen. []

T minus 24

Gestern hatte ich eine nette Unterhaltung zum Thema Laufen und meinem Laufstil. Ich persönlich käme ja nie auf die Idee, das was ich mache als Laufstil zu bezeichnen, aber gehen wir der Einfachheit halber mal davon aus, dass es doch einer ist.
Es gibt Menschen, bei denen unterscheiden sich die 5-Kilometer-Splits innerhalb eines Marathons um gerade mal 5 Sekunden. Die laufen die Kilometer 37 bis 42 in der gleichen Zeit wie die Kilometer 0 bis 5 oder jedes andere beliebige 5 Kilometer Intervall dazwischen.
Ich schaff‘ so kleine Differenzen nicht mal bei zwei aufeinanderfolgenden Kilometern. Das liegt zum einen daran, dass ich überhaupt kein Gespür für Geschwindigkeiten habe und zum anderen daran, dass ich auch 42 Kilometer auf Sicht laufe. Was ich habe, das habe ich, wer weiß, wie lange es hält.
Alle, wirklich ausnahmslos alle Auswertungen zu Langstreckenläufen zeigen, dass man damit nicht die bestmögliche Zeit erreicht, sondern halt irgendeine beliebig schlechtere.
Stellt sich also die Frage, ob ich das ändern möchte. Meine Lauf-App kann zum Beispiel meine Geschwindigkeit kontrollieren und mir mitteilen.
Aber einerseits will ich mir von so einem Stück Software nicht 5 Kilometer lang sagen lassen, dass ich zu schnell bin (gut, ich will mir eigentlich nicht 37 Kilometer lang sagen lassen, dass ich zu langsam bin) und andererseits lebe ich mein Leben schließlich auch nur auf Sicht.

Variatio delectat

Das ist keine Sexpraktik, das ist Latein. Gut, es könnte natürlich auch beides sein, Fellatio und Cunnilingus sind das schließlich auch. Aber in diesem Fall ist es nur Latein und bedeutet „Abwechslung erfreut“.

Ich hatte in meinem ersten Studium einen Kommilitonen, der hatte sein ganzes Leben schon geplant. Abschluss mit 25, im Anschluss eine gut dotierte Ingenieursstelle, Teamleiter mit Anfang 30, Abteilungsleiter mit Ende 30, Aufstieg ins obere Management ab Mitte 40. Als ich das letzte Mal geschaut habe, hat er sich zeitlich ziemlich genau an den Plan gehalten. Der würde sicherlich sekundengenaue 5-Kilometer-Splits hinbekommen. Aber so könnte ich das nicht.

Ich habe in meinem Leben zwar auch ein paar große Pflöcke eingeschlagen, Familie, Freunde, Haus. Aber das war es dann im Großen und Ganzen auch mit den schweren Geschützen. Der Rest hat mehr die Größe von Zeltheringen; leicht zu setzen, leicht zu entfernen.

Das bringt mir an der ein oder anderen Stelle den „Vorwurf“1 ein, ich würde immer so radikale Kurswechsel vollziehen und Schnellschüsse produzieren. Um einen radikalen Kurswechsel vollziehen zu können, müsste ich erst Mal einen Kurs haben und nicht bloß eine ungefähre Richtung. Und bei den Schnellschüssen habe ich festgestellt, dass es für mich selten besser wird, wenn ich es tausend Mal hin und her überlege und anpasse. Außerdem bin ich ziemlich schnell im Denken, das sieht nur manchmal von außen so aus, als hätte ich mir nichts überlegt.

Ja, nicht immer das richtige und so retrospektiv betrachtet gab es die ein oder andere Sache, bei der 5 Minuten weiteres überlegen vielleicht den entscheidenden Unterschied zwischen „Desaster“ und „Wow“ gemacht hätten. Andererseits hätte ich dann vermutlich viele Dinge die wirklich klasse waren nicht gemacht, weil sie am Anfang ganz viele Unwägbarkeiten beinhaltet haben und vernünftige Menschen mit altersadäquaten Entscheidungsfindungsprozessen darauf verzichtet hätten, es auch mal auf gut Glück zu probieren. Falls sich übrigens jemand fragt, was denn um alles in der Welt ein altersadäquater Entscheidungsfindungsprozess ist: „Scheiß drauf, ich mach’s jetzt einfach“ ist auf jeden Fall keiner.

Wirklich bereut habe ich bisher noch nichts. Ein paar Sachen tun mir leid, aber das sind hauptsächlich die Begebenheiten, bei denen ich das Leben anderer mit der Feinfühligkeit einer Horde heranstürmender Hunnen gestreift und manchmal auch überrannt habe, oder andere etwas davon abbekommen haben, dass ich mir mit einer gewissen Regelmäßigkeit selbst im Weg stehe. Ansonsten gebe ich meinem Leben einfach die Chance, mich auch positiv zu überraschen. Das gelingt ihm auch nach Jahrzehnten erstaunlich oft.

Um jetzt wieder die Kurve zum Laufen zu bekommen: Ich freue mich einfach über jeden Kilometer, den ich nicht gehen muss, ohne vorher schon zu wissen, wann der Zeitpunkt kommen wird, zu dem ich es dann doch muss. In Gedanken nehm‘ ich mein großes Laufvorbild mit und über die ersten Ermüdungserscheinungen wird mich ihr „Nein, nicht gehen, langsam weiterlaufen und atmen“ hinwegtragen. Wenn dann die Mitochondrien echt nicht mehr wollen, kommt noch ein gedankliches Augenrollen ihrerseits und ein weiterer gelaufener Kilometer meinerseits dazu. Ich konnte ja leider keinen davon überzeugen, mitzugehen und wenigstens am Strassenrand zu stehen, was vielleicht noch mal einen Kilometer ausgemacht hätte. Aber selbst wenn, irgendwann würde auch das nicht mehr reichen. Einen Teil der Strecke werde ich gehen.

Ich habe mir allerdings fest vorgenommen, den letzten Kilometer wieder zu laufen, da geht’s durchs Brandenburger Tor und im Ziel werden auch noch von den 5-Stunden-Läufern Fotos gemacht. Und wenn ich eins aus den gefühlt zweitausend Powerpoint-Präsentationen, die ich innerhalb letzten 5 Jahre entweder gemacht habe oder anschauen durfte, gelernt habe, dann ist es das, dass es immer und fast ausschließlich darauf ankommt, wie man es verkauft. Inhalt wird völlig überbewertet.

Ich habe allergrößten Respekt vor all den fokussierten Läufern, die ein Ziel vor Augen haben, monatelang darauf hinarbeiten und das dann mit der gewünschten Marathonzeit krönen.

Wirklich.

Ich kann das halt nicht und deshalb gibt’s bei mir ein Duchgewurschtle und am Ende hoffentlich irgendwann das Überschreiten der Ziellinie vor dem Besenwagen.

Und wenn jetzt einer denkt „ach komm, der will sich doch nur das zu erwartende schlechte Ergebnis in Berlin schönreden“

Stimmt. Noch so was, was ich besser kann als Laufen: Ergebnisse schönreden.

including my 27 months younger self
  1. die Person, für die ich das Wort in Gänsefüsschen gesetzt habe, weiß hoffentlich wie ich das meine []

T minus 34

bucket list. Machst Du jetzt auch diesen Unsinn?

Weil die Tastatur meine Telefons eher nicht dazu ausgelegt ist, seitenlange Abhandlungen zu schreiben1, kommt die lange Antwort2 jetzt hier hin.

Ich bin ein schrecklich unorganisierter Mensch, der privat keinerlei To-Do-Listen führt, der in aller Regel keine längerfristigen Pläne macht3 und der Vorschlägen anderer, das eigene Leben betreffend, eher unaufgeschlossen gegenüber steht4.
Ich habe keines der unzähligen Listen-Ratgeberbücher, die mir versuchen zu erklären, was ich unbedingt beachten muss, ich benutze keine Tools5, mit denen ich meine bucket list verwalte, ich lese keine bucket lists von anderen, um mich inspirieren zu lassen und ich werde ganz sicher meine bucket list nicht veröffentlichen, um andere auf Ideen zu bringen. Für letzteres müsste sie nämlich erst Mal ausserhalb meines Kopfes existieren6.
Ich weiß ehrlich gesagt nicht, wer sowas macht7, aber meine Träume und Wünsche bekomm‘ ich noch alleine hin8. Und was anderes ist es eigentlich nicht.
Völlig egal, wie man das nennt. Ob:

  • Löffelchen-Liste9
  • bucket list10
  • 1000 things to do before you die11

es geht letztendlich um Träume und Wünsche. Und zwar die eigenen und keine fremden. Also bei mir zumindest.

Bei Zitaten sehe ich das übrigens völlig anders. Die sollten nicht von mir sein. Das wirkt im besten Falle schräg, aber im Normalfall ist es schon umgefallen.

Fangen wir mit Mark Twain an:

illusions
Ich möchte betonen, dass meine Fachberaterin für Schriftarten, Farben, Design und ‚Chichi‘ an der Auswahl dieses Fonts völlig unbeteiligt war. Es ist immerhin nicht Comic Sans.
arbeiten uns dann langsam vor zu Theodor W. Adorno.
(Adorno immer ohne Bild):

Es gibt kein richtiges Leben im falschen.

und beenden die lange Antwort dann doch mit einem Zitat von mir:

Ich hab‘ Sachverhalte schon ironisch gebrochen, da hast Du das noch ganz unironisch mit Bier gemacht

  1. Vermutlich denken jetzt einige meiner WhatsApp-Kontakte, dass mich das leider normalerweise doch auch nicht davon abhält, es doch zu tun []
  2. die kurze war: „Ja“ []
  3. Ich habe genau 1 (in Worten: ‚einen‘) 10-Jahres-Plan, den ich mit kleinen Unterbrechungen und eher ’so-la-la‘-Fortschritt seit 2 Jahren verfolge []
  4. Wer sich genauer dafür interessiert, kann es hier nachlesen []
  5. das gibt es wirklich []
  6. mal ganz davon abgesehen, dass ‚Achterbahn fahren, und zwar eine wilde, gefährliche mit loopings‘ jetzt auch nichts ist, was irgendjemand vom Hocker reisst []
  7. wenn man sich die Verkaufszahlen auf z.B. amazon anschaut aber wohl einige []
  8. Mit der Verwirklichung hapert’s oft, aber dafür gibts natürlich mal wieder keine Bücher, ganz abgesehen davon, dass die auch nicht wirklich helfen würden []
  9. Sachen, die man machen möchte, bevor man den Löffel abgibt []
  10. weil ‚kick the bucket‘ die englische Entsprechung des ‚Löffel abgeben‘ ist []
  11. Wobei ich da schon seltsam finde, dass mir andere sagen, was ich machen soll []

T minus 37

Eigentlich hasse ich ja Sätze, die mit „eigentlich“ anfangen, weil man sich den Text dann bis zum fast zwangsläufig folgenden „aber“ sparen kann.
Aber in dem Fall passt es.

Eigentlich hatte ich das Thema „ich laufe in meinem Leben einen Marathon“ im April von meiner bucket list gestrichen, weil ich einen gelaufen1 bin und weil sich 42,195 Kilometer auf der Strecke dann doch sehr viel weiter angefühlt haben, als auf dem Papier.

Aber ich hätte schon gern eine vier bei der Stundenzahl stehen und keine fünf.
Und weil ich andere immer wieder darauf hinweise, dass „mimimi“ prinzipiell nichts ändert, sondern man schon über seinen Schatten springen muss und am Ende dann „einfach mal machen“2, hatte ich geplant, vielleicht doch noch mal einen zu laufen3.

Die Monate zogen ins Land und die interne Akzeptanz der 5 wuchs und gedeihte. Immerhin war ich ihn ja gelaufen4 und es ist schon verdammt weit5.

Vermutlich wäre das Vorhaben sanft und selig entschlummert, wenn mein Arbeitgeber keine Startplätze für den Berlin-Marathon ausgeschrieben hätte, für die man sich bewerben konnte. Da ich sprachlichen Herausforderungen viel aufgeschlossener gegenüber stehe als körperlichen und ich das „short“ in

giving a short statement why you should be part of the team

irgendwie überlesen haben muss, habe ich in die Tasten gegriffen und mich beworben.

Je nachdem wen man fragt, haben sich entweder weniger Menschen beworben als Plätze zur Verfügung standen, oder meine schriftstellerischen Fähigkeiten liegen weit über meinen läuferischen6.
Auf jeden Fall hatte ich eine Woche später eine Email mit folgendem Inhalt in meinem Postfach:

Unter allen eingegangenen Bewerbungen für einen von fünf Startplätzen beim 43. BMW Berlin Marathon wurden Sie ausgewählt. Herzlichen Glückwunsch!

Mein allererster Gedanke war
„yeah, ich hab‘ vorher noch nie was gewonnen“,

kurz darauf kam dann
„fuck, jetzt muss ich da ja laufen7

gefolgt von einem
„wieviel Zeit habe ich denn noch?“

Hier liest vermutlich niemand, der mich nicht kennt und falls doch:
In der langen Reihe meiner Vorfahren – irgendwo zwischen Archaebakterium und mir – findet sich vermutlich ein Tiefseefisch.
Das würde zumindest erklären, warum ich nur unter Druck funktioniere und ansonsten eher so vor mich hin prokrastiniere.
Das klappt im normalen Leben auch ganz oft völlig problemlos, bei so Dingen wie Ausdauer-Sport geht das wegen des Worts „Ausdauer“ aber schief.

Um in den verbleibenden 37 Tagen zumindest das extrinsische Motivationslevel zu erhöhen8, gibt es diesen Beitrag.

Mit Bild.

Photoshop kann ich nämlich auch besser als Laufen.

berlin

  1. Ja, ich bin ihn viel mehr gegangen, als gelaufen, ich weiß []
  2. An dieser Stelle „Danke“, dass ihr trotzdem noch mit mir sprecht. Ich weiß, dass niemand Klugscheißer mag []
  3. Und sei es nur deshalb um zu zeigen, dass solche Sachen auch scheitern können []
  4. Ja, gegangen. Können wir das Thema jetzt mal sein lassen? []
  5. ziemlich genau von Ravensburg nach Biberach, von Achern nach Lahr, von Zürich nach Schaffhausen. Am Stück. Zu Fuß []
  6. Das ist ein Komparativ und sagt angesichts meiner läuferischen Qualitäten so gar nichts über meine sprachlichen aus []
  7. dieses Mal will ich wirklich laufen []
  8. Da reicht bei mir schon die implizite Erwartungshaltung anderer []

Kapitel 1 – Bergfest

Schön, wenn man morgens im Büro mit Torte empfangen wird. Nicht mehr ganz so schön, wenn man den Anlass mitgeteilt bekommt.

»Ab jetzt geht’s bergab! Halbzeit, Daniel«

Mathematiker sind ein seltsamer Menschenschlag und dabei hatte ich gedacht, ich hätte mich in den letzten 4 Jahren an sie gewöhnt.

Aber wenn ich jetzt in ihre fröhlichen Gesichter und auf die Torte blicke, auf der sie mir mitteilen, dass ich »rein statistisch« heute Morgen kurz nach 7 Uhr meine Lebensmitte überschritten habe, stelle ich fest, dass das wohl nie der Fall sein wird.

In anderen Behörden feiert man Geburtstage und Dienstjubiläen, das Referat „Bevölkerungsstand und -bewegung“ des statistischen Landesamts, für das ich personaltechnisch zuständig bin, scheint seit Neuestem so was zu feiern und legt dabei einen Humor an den Tag, der mit schwarz nur unzureichend beschrieben ist.

Dabei haben sie sich ganz viel Mühe gegeben. Mein Geburtsdatum in Vollmilch, mein Todestag in dunkler Schokolade. Dass mein skeptischer Gesichtsausdruck darauf mit einem kurzen Blick auf meinen Bauch und einem »bei Deinem BMI ist der vermutlich viel früher, aber wir brauchen ja auch Ausreißer nach unten« beantwortet wird, macht die Sache nicht besser.

Man reicht mir ein Messer, bei dem ich zuerst die Befürchtung hege, heute wäre nicht die Mitte, sondern das Ende gekommen. Aber zum Glück soll ich damit nur die Torte anschneiden.

Eine halbe Stunde später ist meine erste Lebenshälfte komplett vom Blech verschwunden und von der zweiten nur noch ein kümmerlicher Rest übrig, der langsam vor sich hin schmilzt und der 24.11.2053 in Zartbitter, den sich anscheinend keiner getraut hat zu essen.

Nun denn.

Ich stecke mir meinen Todestag entschlossen in den Mund und während er mir auf der Zunge zergeht überlege ich, was ich denn heute Morgen kurz nach sieben gemacht habe. So eine Lebensmitte will ja gebührend begangen worden sein, man hat schließlich nur einmal Halbzeit im Leben.
Halbzeit, wie das schon klingt.

Wären wir beim Fußball, könnte ich mir jetzt von Experten erklären lassen, wie ich mich denn in den ersten 40 Jahren, 3 Monaten und 2 Tagen geschlagen habe. So muss ich das selber machen. Oder ich kratze den Rest der zweiten Lebenshälfte zusammen, gönne mir noch einen Kaffee dazu und mache mich an die Arbeit.

Hätte auch fast geklappt. Dummerweise fällt mir in dem Moment ein, was ich gemacht habe. Heute Morgen. Kurz nach Sieben.

Ich war auf der Suche nach Toilettenpapier.

Ein halbes Leben, zusammengefasst in einem Moment.

Aber irgendwas ist ja immer.

Ein kurzer Blick auf den Kalender bestätigt mir, dass ich gleich einen Termin bei meiner Chefin habe, um die Mitarbeiter-Fortbildungen der Abteilung des nächsten Jahres zu planen. Vermutlich werde ich mit den Vorschlägen, die mir gerade durch den Kopf gehen „Freunde finden leicht gemacht“, „Empathie ist lernbar“ und „sozialadäquates Verhalten für Asperger“ nur eine hochgezogene Augenbraue und ein »Herr Schultz, wir sind eine seriöse Behörde« ernten.

Das Telefon meldet sich und meine Frau teilt mir mit, dass ich auf dem Heimweg noch was zum Grillen besorgen soll. Weil unsere Kinder die ganze Zeit um deren Grill schleichen würden, hätte sie die Nachbarn auch eingeladen, wir wären jetzt mal dran, bevor es zu peinlich wird. Als wäre da noch irgendwas zu retten. »Und komm‘ bitte etwas früher heim, die Terrasse sieht aus wie Sau«

Und so verbringe ich den Abend im Garten, lausche dem neuesten Dorftratsch und der wieder mal viel zu leise laufenden Musik, gieße mir das letzte Glas Grauburgunder ein, bestaune einen imposanten Sonnenuntergang und grüble kurz darüber nach, ob das jetzt der Erste meiner zweiten Lebenshälfte sein könnte. Wahrscheinlich nicht. Vermutlich war der irgendwann vor vielen Jahren. Zumindest kommt es mir so vor.

Ein gut gezielter Schlag meiner Nachbarin auf meinen Oberarm reißt mich aus meinen Gedanken. Ich habe wohl mal wieder nicht zugehört und blicke in sechs gespannte Gesichter.

»Und was meinst Du dazu?«

Ich beschließe zu improvisieren und die gewünschte Antwort aus den Mienen der Beteiligten herauszulesen.

»Nein, auf keinen Fall« war es schon mal nicht. Da muss ich also noch an mir arbeiten.

Der Tag endet wie er begonnen hat mit der Suche nach Toilettenpapier. Aber das werde ich in diesem Leben ziemlich sicher nicht mehr lernen. Dabei ist „immer vorher schauen“ eigentlich gar nicht so schwer zu merken.

umschlag