ich kann nicht anders Teil I

Zum Urteil des Bundesverfassungsgericht zur Berechnung der ALG-II-Leistungen und den Reaktionen darauf, kann ich mich einiger Kommentare nicht enthalten. Ich hab’s versucht, ich hab’s wirklich versucht, aber wenn ich z.B. in der Welt so etwas lese:

Zwar wollen die meisten Fürsorgeempfänger sicherlich gerne arbeiten – doch nur zu einem Lohn, der ihr Transfereinkommen übersteigt. Einen solchen Job aber dürften viele der Langzeitarbeitslosen auf dem regulären Arbeitsmarkt nicht bekommen. Hartz IV belohnt somit die Nichtteilhabe am Arbeitsmarkt, statt die Menschen zur Selbsthilfe zu animieren.

kann ich einfach nicht anders. Würde der Absatz aus der Welt stimmen, gäbe es keine Friseurinnen, Wachschützer, Müllmänner, Verkäufer bei Schlecker, niemandem im Hotel & Gaststättengewerbe, es gäbe keine Gebäudereiniger und Hilfskräfte im Pflegebereich.

Selbst einem entrückten WELT-Redakteuer sollte aufgefallen sein, dass ihm immer noch jemand die Haare schneidet, er in der Wirtschaft bedient, sein Hotelzimmer täglich gereinigt, der Mülleimer geleert wird und irgendjemand bei seiner Oma im Pflegeheim die 3,8 Liter-Windel wechselt (letzteres wäre dann mal einen eigenen Beitrag wert).

Woher hat er dann seine Einsichten?

Ich bestreite nicht, dass es Menschen gibt, die es sich mit ALG-II und Schwarzarbeit gemütlich eingerichtet haben, ich bestreite nur, dass diese Menschen repräsentativ sind.

Mindestlohn von der anderen Seite

Ausgehend vom Urteil des BVerfG zum ALG-II-Satz (1 BVL 1/09) ist die Debatte um den Mindestlohn wieder aufgeflammt. Ich empfehle, das Urteil komplett zu lesen und nicht nur die Leitsätze (so ab Rn. 155 wird’s dann die Höhe betreffend interessant).

Da die Befürworter des Mindestlohns nur altbekannte Thesen wiederholen, gestehe ich mir das auch zu.

Mindestlohn von der anderen Seite

Nehmen wir mal an, ich wollte mich mit einer Agentur für haushaltsnahe Dienstleistungen selbständig machen. Den Bedarf schätze ich auf mindestens 10 Vollzeitkräfte ein.

Meinen Mitarbeitern zahle ich den (geforderten) gesetzlichen Mindestlohn von 7,50 EUR/h. Was muss ich jetzt den Auftraggebern verrechnen, der Oma, die für 2 Stunden pro Woche eine Haushaltshilfe braucht, dem Ehepaar, das für einen Kinobesuch einen Babysitter braucht?

Ein Stundenlohn von 7,50 EUR ergibt einen Monatslohn von 1’260 EUR und einen Jahresarbeitslohn von 15’120 EUR. Dazu kommen noch die Arbeitgeberanteile in den Sozialversicherungen und der Berufsgenossenschaft, und ich bin bei 18’200 EUR.

Für Planung, Telefondienst, Aquise, Abrechnungen etc. rechne ich einen 11. Mitarbeiter ein, der ebenfalls den Mindestlohn bekommt. Da ich diesen Mitarbeiter nirgendwo abrechnen kann, schlage ich ihn anteilsmässig auf die übrigen Mitarbeiter drauf (ich will ja nachher wissen, zum welchem Preis ich die Dienstleistung anbieten kann). Dann bin ich bei 20’020 EUR.

Ein Büro für den Mitarbeiter, der sich um die Administration kümmert, wäre nicht schlecht. Ich kann ja weder verlangen, dass er das von zuhause aus macht, noch möchte ich die betreffende Person auf Dauer in meinem Wohnzimmer sitzen haben. Niedrig geschätzt sind das ca. 700 EUR pro Monat inkl. Strom und Telefon. Sonstige Verbrauchskosten (Papier, Toner, Ordner etc.) rechne ich mit 100 EUR ein. Die Büroausstattung lease ich (der Einfachheit halbe, damit ich jetzt nicht auch noch mit Abschreibungen, Zinsen etc. rechnen muss) für 200 EUR pro Monat. Die müssen auch erwirtschaftet werden. Pro Person, die ich einem Kunden verrechnen kann, sind wir dann bei 1’200 EUR pro Jahr.

Werbung sollte ich vielleicht auch machen, damit die Leute auch wissen, was ich anbiete. Amtsblättle (ja, die werden bei uns in Oberschwaben noch gelesen), Visitenkarten für den Stand im Einkaufszentrum, Flyer. Vorsichtig geschätzt bin ich dann bei ca. 6’000 EUR pro Jahr (500 EUR pro Monat hat man schneller weg, als man denkt). Das macht dann pro verrechenbarem Mitarbeiter 600 EUR.

Jetzt bin ich bei 21’820 EUR, die ein Mitarbeiter erwirtschaften muss. Da habe ich selbst noch keinen Cent verdient, habe keine Rücklagen gebildet, und noch keine grossen Anschaffungen getätigt (zum Beispiel Firmenwagen, damit die Haushaltshilfe nicht mit dem Privat-PKW von Auftraggeber zu Auftraggeber fahren muss).

Fast hätte ich noch Herrn Schäuble vergessen, ich biete ja für nicht vorsteuerabzugsberechtigten Endkunden an. Herr Schäuble will 4’146 EUR von mir haben.

Das bedeutet, dass ich dem Kunden pro Haushaltshilfe und Jahr 26’000 EUR in Rechnung stellen muss.

Bei geschätzten 1’700 Arbeitsstunden (365 Tage minus 104 Tage Wochenende minus 25 Tage Urlaub minus 7 Feiertage, die nicht auf ein Wochenende fallen minus 10 Krankheitstage) bin ich dann bei 15,30 EUR/h.

Wie begehrt ich bei Eltern bin, die für den Babysitter (für den Kinobesuch) 70 EUR bezahlen müssen, oder bei der rüstigen Rentnerin, die beim Fensterputzen etc. ein bisschen Hilfe braucht und die für die 2 Stunden pro Woche am Ende des Monats inkl. Fahrzeit (laut BAG sind Fahrzeiten im Pflegedienst Arbeitszeit) 180 EUR von ihrer spärlichen Rente überweisen soll, weiss ich auch noch nicht. Aber angeblich sind ja alle für den Mindestlohn, dann sollten sie auch bereit sein, ihn selbst zu bezahlen.

In dieser Aufstellung fehlen viele Dinge, die typischerweise auch noch anfallen. Alles eingenommene Geld wird entweder an die Angestellten, das Finanzamt, die Sozialversicherungen oder für notwendige Sachausstattung ausgegeben. Kein fetter, fauler Kapitalist stopft sich die Taschen voll.

Seitenwechsel

Wir schauen, was beim Angestellten übrigbleibt. Aus 1’260 EUR Bruttolohn werden 947 EUR Nettolohn. Bei 168 Monatsstunden sind das gerade noch 5,64 EUR.

mindestlohn2

Wer jetzt zusammenzählt und nicht auf 15,30 EUR kommt, sei kurz darauf hingewiesen, dass der Angestellte während des Urlaubs, Feiertagen und Krankheit einen Anspruch auf Entgeltfortzahlung hat. Das sind pro Jahr zwischen 320 und 350 Stunden, die der Angestellte von mir bezahlt wird, ohne dass ich das irgendjemand direkt verrechnen kann.

Und wozu jetzt das alles?

Meines Erachtens kommt in der Diskussion um den Mindestlohn ein Punkt viel zu kurz: Was wird von dem Lohn, den ein Arbeitnehmer erwirtschaftet hat, alles abgezogen, bevor es als Nettolohn in seiner Tasche landet.

Dieser Batzen ist meines Erachtens viel zu groß. Gerade im personalintensiven Bereich wird zu viel weggesteuert.

  • Mit den 3’009 EUR jährliche Zahlung in die gesetzliche Rentenversicherung, erreicht der Arbeitnehmer nicht einmal Grundsicherungsniveau.
  • Mit den 420 EUR jährliche Zahlung an die gesetzliche Arbeitslosenversicherung kommt der Arbeitnehmer im Falle der Arbeitslosigkeit nicht über ALG-II-Niveau.
  • Zu den 2’256 EUR jährliche Zahlung an die gesetzliche Krankenversicherung kommen noch Praxisgebühr, Medikamentenzuzahlungen und bis zu 151 EUR Zusatzbeitrag.

Alle die den Begriff ‚flat tax‘ für eine unbedingt bekämpfenswerte neoliberale Ausgeburt des Teufels halten, haben bei den Sozialversicherungen kein Problem damit, dass sie genau das sind: Eine flat tax, erhoben ab dem 1. EUR Einkommen. Nichts mit schützenswertem Existenzminimum, nichts mit Progression. Von jedem EUR, den der Arbeitgeber bezahlt, fliessen 33 Cent an die Sozialversicherungen. Zu allem Übel ist es auch noch eine flat tax, die bei maximal 66’000 EUR Einkommen pro Jahr gedeckelt ist.

Was sich wie der feuchte Traum eines schmierigen, arbeitnehmerfressenden, über-Leichen-gehenden Grosskapitalisten anhört ist in Tat und Wahrheit die Vorstellung der sozialdemokratischen Partei Deutschlands zu den sozialen Sicherungssystemen. Selbst bei der Bürgerversicherung soll es nach Vorstellung der SPD eine Beitragsbemessungsgrenze geben.

Die angedachte Kopfpauschale bei der Krankenversicherung (über deren Ausgestaltung man sicherlich streiten kann), würde zumindest bewirken, dass der Einkommens-Millionär über den Steueranteil auch angemessen an den Gesundheitskosten beteiligt wird. Aber das ist eine andere Geschichte, bzw. ein anderer Beitrag.