Michael Wolffsohn lehrt an der Bundeswehr-Uni in München „Neuere Geschichte“, hat der Welt ein Interview gegeben, über das ich gestolpert bin und das ich nicht unkommentiert lassen kann.
Tatsache ist, dass derzeit rund 20 Prozent der Männer eines Geburtsjahrgangs Wehr- und weitere 20 Prozent Zivildienst leisten. Etwa vierzig Prozent setzen sich also auf die eine oder andere Weise für die Gemeinschaft ein, während sechzig Prozent auf den Egotrip gehen können. [..]
Abiturienten kommen in der Regel aus wohlhabenderen Familien. Sie sind unter Wehrpflichtigen und Offizieren unterrepräsentiert – auch weil sie sich geschickter drücken können. [..]
Wenn sich sechzig Prozent der männlichen Bürger dieser Bürgerlichkeit entziehen, [..]
Eine Tatsache, die auch er akzeptieren können müsste, ist, dass die Politik die Ausrichtung der Bundeswehr und damit auch die Anzahl der benötigten Grundwehrdienstleistenden festlegt.
Herr Wolffsohn, der an einer Bundeswehruni lehrt, sollte eigentlich die momentane Personalstärke der Bundeswehr kennen. Falls nicht, findet er sie im PSM 2010.
Kein 19-jähriger Abiturient hat Einfluß darauf, ob, wie am Ende des kalten Krieg Mitte/Ende der 80er Jahre, 250’000 GWDL benötigt werden, die 15 Monate Grundwehrdienst ableisten, oder wie heute, 40’000 GWDL, die 9 Monate Dienst ableisten. Die Leute werden nicht mehr gebraucht (was ich grundsätzlich ja gut finde). Ihnen dann mit Worten wie „Egotrip“, „geschickt drücken“ und „Bürgerpflicht entziehen“ die Schuld dafür in die Schuhe zu schieben, halte ich für ziemlich gewagt.
Was wäre denn, wenn der Jahrgang 1992 (Hilfe, ich werde alt), der jetzt bald zu Musterung ansteht, aus lauter tauglichen Männern bestünde, die ihrem Gewissen folgend den Kriegsdienst nicht verweigerten? Wir hätten rund 380’000 junge Männer, von denen laut Bundeswehrplanung nur 45’000 benötigt werden. Was machen wir dann mit dem Rest? Wären diejenigen 88%, die nicht zum Wehrdienst eingezogen würden dann auch auf dem Egotrip?
Die beiden derzeit regierenden Parteien möchten an der Wehrpflicht festhalten. Statt ihr Programm der Realität anzupassen, passen sie die Realität ihrem Programm an. Dazu gehören neben den immer weiter ausgelegten Regelungen zur Nichteinziehung zum Wehrdienst (3. Bruder, Religionsstudenten, Unterhaltspflichtige, Verheiratete, …), immer schärfer ausgelegte Tauglichkeitskriterien. Ich kann mir ehrlich gesagt nicht vorstellen, dass sich der Gesundheitszustand der männlichen Bevölkerung in 10 Jahren so sehr verschlechtert hat, dass statt 14% plötzlich 42% eines Jahrgangs untauglich sind.
Aber wenn man es auf die männlichen Jugendlichen schieben kann, wieso nicht. Ist ja auch viel einfacher als ein bisschen nachzudenken.
Es ist eben nicht mehr so, dass die Wehrpflicht jeden Mann trifft, es ist eben nicht mehr so, dass Männer und Frauen nicht um die gleichen Stellen konkurrieren, es ist eben nicht so, dass das Arbeitsplatzschutzgesetz für Lehrstellenabsolventen einen Schutz darstellt, es ist eben nicht mehr so, dass Personalverantwortliche und Firmenchefs die Erfüllung der „Bürger-„pflicht Wehrdienst honorieren.
Von zwei Auszubildenden mit ähnlicher Qualifikation wird der weiterbeschäftigt, der mit der Ausmusterung winken kann, wer weiss denn bei der chaotischen Planung im KWEA denn schon genau, wann der tauglich Gemusterte innerhalb der nächsten 3 Jahre und einer Vorlaufzeit von 6 Wochen für 9 Monate verschwindet, um Marder-Ersatzteile in der Pampa zu bewachen?
Ihr gesamtes Leben haben diese Jugendlichen vorgelebt bekommen, dass Effizienz und marktwirtschaftliches Handeln gefordert sind. Jetzt setzen sie dieses Wissen mal praktisch ein.
Man sollte bei allem nicht vergessen, dass es sich bei diesen Menschen nicht um zynische Altpolitiker handelt, die sich seit Jahrzehnten auf der öffentlichen Bühne und in konspirativen Hinterzimmern rumtreiben, sondern in der allermeisten Fällen um Jugendliche, die über sehr wenig Lebenserfahrung verfügen.