Warum ich trotzdem für direktdemokratische Elemente bin

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Artikel 20 II Grundgesetz

Nach den gescheiterten Versuchen den Bürgerinnen und Bürgern Münchens, Garmisch-Partenkirchens sowie der Landkreise Traunstein und Berchtesgardener Land ein Ja zur Olympiabewerbung 2022 abzuringen, sind die Kommentarspalten der Qualitätspresse wieder gefüllt mit Argumenten gegen die direkte Demokratie.

Das schwankt zwischen grobem Unwissen,

Die deutschen Vorbehalte haben viel mit den Erfahrungen der Weimarer Republik zu tun

Katharina Dippold, „Die Stammtisch-Demokratie“, cicero online

ausblenden der Realitäten,

Denn direkte Demokratie bedeutet in vielen Fällen, dass eine Minderheit über die Mehrheit entscheidet

Claudia Kling, „Risiko direkte Demokratie“, Schwäbische Zeitung online

Das bedeutet: Vier bayerische Gemeinden haben für, nein, über das gesamte bundesdeutsche Volk bestimmt.

Michael Wolffsohn, „Volksentscheide? Die will das Volk doch gar nicht“, focus online

Volksentscheide bergen das Risiko, dass mobilisierungs- oder ressourcenkräftige Minderheiten die Agenda bestimmen.

Wolfgang Merkel, „Eine sozial verzerrte Schrumpfversion des Volkes“, Zeit online

und blanker Stimmungsmache.

Die Gefahr bestünde, dass Populisten auf dem Volkszorn reiten und kurzfristige Stimmungen in Politik übersetzen.

Andreas Petzold, „Den Demagogen ausgeliefert“, Stern online

Um mal oben zu beginnen:
In der Weimarer Republik gab es auf Reichsebene nur drei Versuche, politische Interessen in Form eines Volksentscheids durchzusetzen. Ein Versuch kam nicht über das Stadium des Volksbegehrens hinaus, da zuwenig Menschen es unterstützten, die anderen zwei scheiterten am Quorum. Stellt sich die Frage, welche Erfahrungen Frau Dippold meint.

Frau Kling hat übersehen, dass auch bei vielen Wahlen zu Parlamenten und Bürgermeisterwahlen die Minderheit über die Mehrheit entscheidet. Die Wahlbeteiligung bei vielen (Ober-)Bürgermeisterwahlen in Baden-Württemberg lag unter 50%, die Zustimmung für den Gewählten lag die Zustimmung z. B. in Freiburg bei 22,7% und in Böblingen bei 23,4%. Diese Liste ließe sich beliebig fortsetzen. Bürgermeister in Baden-Württemberg werden regelmäßig von einer Minderheit gewählt, die maximal ein Viertel der Wahlberechtigten ausmachen.
Bei Gemeinderäten sieht es teilweise nicht besser aus. In Mainz sind beim letzten Mal nur 49,5% der Wahlberechtigten überhaupt zur Wahl gegangen, in Mannheim gab es gar nur 40,3% gültige Stimmen. Mit 21% der Wahlberechtigten bekommt man es in Mannheim hin, eine Ratsmehrheit zu stellen.
Selbt die übergroße Parlamentsmehrheit der wahrscheinlich bald beginnenden großen Koalition aus CDU/CSU und SPD hat nur 47,5% der Wahlberechtigten hinter sich. Auch die letzte Koalition aus CDU/CSU und FDP hat nur mit dem Rückhalt von 33,7% der Wahlberechtigten regiert. Schon jetzt entscheidet eine Minderheit über die Mehrheit. Da die Parlamente aber trotzdem bis zum letzten Platz aufgefüllt werden, fällt es nur niemandem auf.

Herrn Wolffsohn ist vermutlich entgangen, dass sich Städte für olympische Spiele bewerben und nicht Staaten. Gäbe es keinen Volksentscheid zum Thema Olympia, entscheidet eben der Stadtrat Münchens und Garmisch-Partenkirchens über eine Bewerbung. Da würden dann 41 Menschen für, nein, über das gesamte bundesdeutsche Volk bestimmen. Das ist etwas grundlegend anderes?

Wenn sich Herr Merkel ganz aktuell anschaut, was Frau Schwesig unter Umständen zum Platzen lassen von Koalitionsverhandlungen bringen könnte, dann wird er erkennen, dass es sich – nimmt man die Adoptionszahlen, die Ehen und eingetragenen Lebenspartnerschaften als Grundlage – um einen Personenkreis von vermutlich 100 Personen pro Jahr handelt.
Auch die Vorstöße zum Thema Frauenquote in Aufsichtsräten betrifft in ganz Deutschland vielleicht 1’000 Personen. Trotzdem bewegt es die politische Auseinandersetzung mittlerweile über Jahre. Schon jetzt bestimmen also mobilisierungs- und ressourchenkräftige Minderheiten die Agenda.

Herrn Petzold rate ich einfach mal nach „Florida-Rolf“ zu googlen. Da ging eine Änderung von Richtlinien in der Sozialhilfe in einer ungeahnten Geschwindigkeit und ohne die Auswirkungen zu bedenken.

Das nur zu den Argumenten der Kritiker, nun zu meinen.

Was hat ein Schulsystem mit einer Olympia-Bewerbung zu tun, was die Ablehnung einer allgemeinen Wehrpflicht mit einer Frauenquote in Aufsichtsräten? Nichts.
Und doch bin ich gezwungen, alle Politikfelder alle 4 Jahre komplett einer Partei zu überlassen, die unter Umständen noch nicht einmal eine gesicherte Beschlußlage zu bestimmten Themen (die mir wichtig sind) habt. Da Alleinregierungen sehr selten sind, werden einige Überzeugungen auf dem Altar der Koalitionsvereinbarungen geopfert, leider weiß ich vorher nicht welche. Wer 1998 die Grünen, 2002 die SPD gewählt hat, oder 2009 die FDP, hat vermutlich nicht mit deren Handeln gerechnet.
Ein zumindest völkerrechtlich bedenklicher Krieg gegen Jugoslawien, die Agenda 2010 und ein Betreuungsgeld waren vermutlich nicht das, was die jeweiligen Wähler vorher erwartet hatten. Hat man dann auch an den nachfolgenden Wahlergebnissen gesehen.
Entscheidende Fragen, wie zum Beispiel der Ablauf der deutschen Wiedervereinigung wurde durch die Wählerinnen und Wähler am 25. Januar 1987 entschieden, wie Deutschland im „Krieg gegen den Terror“ nach dem 11. September 2001 agiert am 27. September 1998 und wie wir uns in der Finanzkrise positionieren am 18. September 2005. Da waren diese Themen noch nicht mal am Horizont erkennbar, geschweige denn hatte irgendeine Partei auch nur irgendeine Aussage zu diesem Komplex in ihren Programmen oder Beschlüssen stehen.

Bei einer Volksabstimmung kann ich über die Themen abstimmen, die mir wichtig sind, unabhängig von einer Parteilinie. Ich kann meiner Überzeugung besser und passgenauer eine Stimme verleihen, statt einmal alle 4 Jahre so ungefähr meine politische Grundrichtung zu wählen und zu hoffen, dass die da oben das schon richtig machen. Bei Themen, die mich nicht interessieren, bleibe ich einfach daheim. Wenn man die Wahlbeteiligung in München betrachtet, dann ist das Thema Olympia-Bewerbung den meisten einfach völlig schnuppe.
Wie informiert ein Wähler seine Entscheidung trifft, spielt bei Parlamentswahlen auch keine Rolle. Wer Herrn von Stetten gewählt hat, weil der auf dem Plakat so umwerfend gelächelt hat, hatte genau so viel Einfluß auf den jetzigen Bundestag wie der Politikwissenschaftler, der sich durch alle Wahlprogramme gekämpft hat und dessen Wahl nach einem zweitägigen Entscheidungsprozess auf die SPD fiel. Der gewöhnliche Parlamentarier hat bei über 90% der Abstimmungen auch nicht mehr Ahnung als der Normalwähler. Seine Fraktionskollegen, die in der Materie drin sind regeln das in den Ausschüssen und am Ende bestimmt der Fraktionsvorsitzende, wann man die Hand zu heben hat. Fraktionsdisziplin steht ja mittlerweile in jedem Koalitionsvertrag.

Wenn man sich die Wahlbeteiligung der letzten 5 Jahre zu Landesparlamenten und aufwärts anschaut, dann trauen 29% – 55% der Wahlberechtigten dem jetzigen System nicht, oder es ist ihnen komplett egal. Das hat allerdings kein Parlament daran gehindert, Entscheidungen zu treffen, hinter denen nur eine Minderheit der Wahlberechtigten stand.

Noch mal was zur Bildungspolitik

Was regen sich die Befürworter der Primarschule in Hamburg eigentlich so auf (ich hatte gerade eine Diskussion mit einem)?

Man könnte meinen, durch den Volksentscheid in Hamburg seien Arbeiterkindern die Zukunftschancen auf ewig verstellt.

Wenn ich das richtig mitbekommen habe, dann bietet die Stadtteilschule die Möglichkeit, nach 9 Jahren die allgemeine Hochschulreife zu erlangen. Gemeinsam lernen bis zu 10. Klasse.

Der einzige Unterschied zwischen „wir wollen lernen“ und der Bürgerschaft ist, dass die Gymnasiasten bereits nach der 4. Klasse gehen und nicht nach der 6. Klasse.

Falls ich die ganzen Studien über soziale Disparitäten etc. glauben darf, dann gehen ja nicht einmal die Besten. Es gehen die verwöhnten Blagen völlig versnobter Oberschicht-Eltern, die ihre Nachkommenschaft lieber Altgriechisch und Cello lernen lassen wollen, statt mit der Unter- und Mittelschicht Mathe und Deutsch.

Ob Kevin und Schantal aber wirklich besser lernen, wenn sie Justus und Anne-Sophie 2 Jahre länger ertragen müssen[1], wage ich zu bezweifeln. Erstens gehen sie nicht auf die gleiche Schule (kommt mir das nur so vor, oder ist Hamburg wirklich so extrem geteilt was Arme und Reiche angeht?) ujnd zweitens haben sie nach der Schule ganz unterschiedliche Interessen.

Was nimmt man den Nicht-Gymnasiasten weg?

Geld hätten die 5. und 6. Klässler auch in der Primarschule gekostet, Abitur können die Stadtteilschüler auch machen (und zwar ohne Schulwechsel. Durchlässigkeit bzw. deren immer wieder moniertes Fehlen wirkt sich nicht aus).

In Hamburg und anderswo klaffen zwischen den besten und den schlechtesten Schülern der 4. Klassen über 1 Jahr. Was soll es bringen, das auf 6 Jahre auszudehnen, ausser, dass die lernschwachen dann 1,5 Jahre hinterherhinken. Sollte es nicht vorrangiges Ziel sein, diesen Lernrückstand in der Grundschule zu verringern, statt die Grundschulzeit auszudehnen?

Bei der KESS-Untersuchung am Ende der Grundschule (Hamburg 2004) ergab sich bei der Textschreibleistung ein Mittelwert von 138,8 und eine Standardabweichung von 54,5. Die verringert sich nicht dadurch, dass man 2 Jahre dazupackt.

Wenn die Befürworter des gemeinsamen längeren Lernen ernstgenommen werden wollen, dann sollten sie zuerst versuchen, die bereits bestehenden Lernstandsunterschiede auszugleichen, die im 4-jährigen gemeinsamen Lernen bestehen, statt ein 6-jähriges gemeinsames Lernen zu propagieren, bei dem dann alles besser werden soll.

Ich würde von den Befürwortern der Primarschule gerne mal lesen, welchen Vorteil sie sich erhoffen, wenn alle 6 Jahre gemeinsam lernen. Schön wäre, wenn im Kommentar die verschiedenen Lernstandsuntersuchungen berücksichtigt würden, statt nebulös auf die Lehrsysteme anderer Länder zu verweisen.

 

[1] ich möchte keine Klischees bedienen, aber wenn es schon im Spiegel steht: http://www.spiegel.de/schulspiegel/wissen/0,1518,649421,00.html

Volksentscheid in Hamburg

Am Sonntag haben die Hamburgerinnen und Hamburger über die 6-jährige Primarschule abgestimmt.

Der Volksentscheid, der sich für die Beibehaltung der 4-jährigen Grundschule ausgesprochen hatte, hat alle drei Hürden genommen (Quorum Ja-Stimmen, Mehr Ja als Nein-Stimmen, Mehr Ja-Stimmen als der Vorschlag der Bürgerschaft) und es bleibt bei 4 Jahren Grundschule und 8 Jahren Gymnasium bzw. 9 Jahren Stadtteilschule.

Nach dieser Abstimmung wurde eigentlich schon alles gesagt, aber halt noch nicht von allen 🙂

Das statistische Landesamt hat auf seiner Seite umfangreiche Schaubilder zum Ausgang des Volksentscheids.

Ich möchte 2 rausgreifen, die sich, wenn man sie übereinanderlegt, fast perfekt ergänzen:

wahlbeteiligung-volksentscheid

Dieses Bild zeigt die Wahlbeteiligung in den einzelnen Bezirken an. Dunkle Gebiete hatten eine hohe Wahlbeteiligung, helle Gebiete eine niedrige.

 

Das zweite Bild zeigt den prozentualen Anteil der SGB-II-Empfänger, aka ALG-II, aka Hartz-IV. Auch hier stehen dunkle Farben für einen hohen Anteil, helle Farben für einen niedrigen Anteil.

alg-ii-empfaenger-volksentscheid

 

Legt man beide Schaubilder übereinander, ergeben sich folgende Bilder.

alg-ii-empfaenger-wahlbeteiligung-volksentscheid

Auf dem linken Bild wurde jeweils die dunklere Farbe genommen, auf dem rechten Bild die jeweils hellere.

Eine hohe Wahlbeteiligung korreliert mit einer niedrigen ALG-II-Empfängerrate, eine niedrige Wahlbeteiligung korreliert mit einer hohen ALG-II-Empfängerrate.

Anders ausgedrückt: Arme Menschen gehen nicht wählen. Selbst nicht bei Themen, die scheinbar/anscheined dazu gedacht sind, ihre Situation bzw. die Situation ihrer Kinder zu verbessern. Und damit ist dann auch schon fast alles gesagt.

Solange Eltern der Bildung ihrer Kinder gegenüber neutral oder gar negativ eingestellt sind, können sich die Pädagogen, Bildungspolitiker und Ideologen der verschiedenen Bildungsglaubensrichtungen ein Bein nach dem anderen ausreissen. Es wird sich nichts ändern.

Wenn ich in meinem Lerneifer nicht von meinen nähesten Bezugspersonen, meinen Eltern, unterstützt werde, wenn ich kein ausserschulisches Umfeld habe, dass mir ein ruhiges Lernen ermöglicht, wird es am Ende ganz schwer werden, so etwas wie die allgemeine Hochschulreife zu erlangen. Dann ist es völlig egal, ob ich 4 oder 6 Jahre Grundschule habe, ob alle bis zur 10. Klasse gemeinsam lernen oder schon nach 4 Jahren getrennt wird.

Bei all den Veröffentlichungen zu PISA, IGLU und TIMMS-Studien werden die Eltern, bzw. das familiäre Umfeld fast völlig ausgeblendet. Da lässt sich vermutlich nicht so gut drüber schimpfen wie über ungerechte Grundschullehrerinnen oder ideologisch verblendete Bildungspolitiker.