Neues Wahlrecht

Der Bundestag hat noch ungefähr 1 Jahr Zeit, das bestehende Wahlrecht verfassungsgemäß zu gestalten. Das ist es heute nicht, weil durch die Regelung der Überhangmandate die Situation eintreten kann, dass die Zweitstimme, die man einer Partei gibt, dafür sorgt, dass sie am Ende einen Abgeordneten weniger stellt.

Das ist schon ziemlich lange so, ist der breiten Öffentlichkeit allerdings erst 2005 bewusst geworden, als aufgrund eines Todesfalls eines Direktkandidaten ein ganzer Wahlkreis (Dresden I) erst 2 Wochen nach allen anderen wählen durfte.

Wie das mit dem negativen Stimmgewicht genau funktioniert, erklärt wahlrecht.de viel besser als ich, von daher verweise ich nur auf deren Seite.

Nur soviel: Die Sache mit dem negativen Stimmgewicht kann nur deshalb auftreten, weil wir bei Bundestagswahlen eine Mischung aus Verhältniswahlrecht (Zweitstimme) und Mehrheitswahlrecht (Erststimme) haben. Hätten wir nur eines von beiden, gäbe es das Problem nicht.

Ein reines Mehrheitswahlrecht (also Erhöhung der 299 Wahlkreise auf 598, es zieht jeweils der Kandidat ein, der in einem Wahlkreis die relative Mehrheit erlangt hat) hat allerdings andere Schwachpunkte:

Bei der Bundestagswahl hatten die Wahlkreisgewinner mit der geringsten Prozentzahl gerade mal 26,0% (WK 76). Gerade im Osten haben vielfach Ergebnisse unter 30% gereicht, um ein Direktmandat zu erringen, wie z.B. in den Wahlkreisen 154, 62, 192 (28,8% 28,9% 29,1%).

Andererseits haben 32,8% (WK 210) bzw. 35,3% (WK 168) und 35,6% (WK 172) nicht ausgereicht, um in den Bundestag einzuziehen.

Bei einem reinen Mehrheitswahlrecht fallen bis zu 74% aller Wähler-Stimmen unter den Tisch. In über 260 Wahlkreisen waren es bei der Bundestagswahl 2009 noch über die Hälfte aller Stimmen, die nicht gewertet wurden.

Es kommt nicht nur darauf an, wieviel Stimmen man selbst hat, sondern auch darauf, ob die politische Konkurrenz 2 erfolgversprechende Kandidaten aufstellt (wie zum Beispiel SPD und Grüne in Stuttgart oder Freiburg), die sich gegenseitig die Stimmen wegnehmen, oder ob es nur einen ernstzunehmenden Kandidaten gibt.

Desweiteren liegen zwischen den ersten 2 Kandidaten in einem Wahlkreis manchmal nur hauchdünne Stimmenmehrheiten. In Darmstadt siegte Brigitte Zypries gerade mal mit 45 Stimmen Vorsprung, bzw. 0,02% der Wählerstimmen. Das ist dann eher Lotterie denn Wahlakt.

Aber auch ein reines Verhältniswahlrecht hätte Nachteile. Die Abhängigkeit der Parlamentarier von ihrer Partei würde noch weiter wachsen, denn statt der Menschen (und für die Nominierung natürlich auch die Parteimitglieder) im Wahlkreis würde von einem Landesparteitag über die weitere Zukunft entschieden. Hinterzimmerkungelrunden der Bezirksvorsitzenden (die dann teilweise von der Bundesebene noch „Ratschläge“ bekommen) würden alleine über die Besetzung entscheiden. Wahlerfolge wie z.B. von Christian Ströbele (der keinen aussichtsreichen Landeslistenplatz hatte und von seinem Wahlkreis direkt in den Bundestag gewählt wurde) oder der Beinahe-Erfolg von Cem Özdemir (der gar keinen Listenplatz hatte), wären unmöglich. Die Verbundenheit mit dem Wahlkreis wäre nicht mehr gegeben, weil es keine Wahlkreise mehr gäbe.

Die einfachste Möglichkeit, das Wahlrecht zu ändern, wäre eine Verringerung der Wahlkreise auf 200. Wenn nur noch 1/3 aller Sitze direkt vergeben werden, sinken die Chancen auf Überhangmandate gegen 0.

Wenn man sowieso schon am ändern ist, könnte man auch daran denken, sich am baden-württembergischen Landtagswahlrecht zu orientieren. Es gibt keine Landeslisten mehr, sondern man schaut danach, wer denn die erfolgreichsten Kandidaten der jeweiligen Partei in den Wahlkreisen gewesen sind. Für jede Partei wird eine Liste ihrer Direktkandidaten, sortiert nach dem Ergebnis der Erststimme, erstellt. Statt einer Landesliste nimmt man dann diese Liste, um die übrigen Plätze im Bundestag aufzufüllen.

Da das aber die Möglichkeiten der Parteien zu sehr beschneiden würde, wird die Idee vermutlich von niemandem aufgegriffen werden, der auch die Chance hätte, sie in Gesetzesform zu bringen.

6 Gedanken zu „Neues Wahlrecht“

  1. Sehr gut, daß sich noch jemand für die Geschichte mit den negativen Stimmgewichten interessiert. Das Problem ist aber nicht so sehr die Mischung zwischen Mehrheits- und Verhältniswahlrecht oder die Anzahl der Abgeordneten sondern Entstehung von Überhangmandaten auf Landesebene (interne Überhangmandate). Das löst man meiner Meinung am besten, indem man Landeslisten verbindet oder Überhangmandate den parteiinternen Länderproporz verletzen läßt. Siehe Punkt 1 und Punkt 4.2. Den parteiinternen Landesproporz halte ich nämlich für entbehrlich, da die Parteien ja sowieso mit bundeeinheitlichen Programmen antreten. Endweder man wendet sich an sein lokalens MdB oder an ein Ausschußmitglied, egal welchen Landes.

  2. Prinzipiell finde ich eine Verletzung des parteiinternen Länderproporzes auch nicht tragisch. Wobei das die Überhangmandate der CSU nicht betrifft. Die Zeiten, in denen die CSU über 50% der Zweitstimmen in Bayern hatte, sind vorbei. Eine echte Konkurrenz für die Erststimme gibt es aber (zumindest momentan) nicht, so dass sich die Überhangmandate auch auf mehr als die 3 belaufen können, die es 2009 gab.

  3. Eine Orientierung am Baden-württembergischen Landtagswahlrecht erscheint mir nicht sinnvoll, insbesondere aus den Gründen, die Du selbst gegen anführst: „Es kommt nicht nur darauf an, wieviel Stimmen man selbst hat, sondern auch darauf, ob die politische Konkurrenz 2 erfolgversprechende Kandidaten aufstellt“. Verschärfend kommt in Ba-Wü hinzu, dass die absoluten Stimmenzahlen statt der prozentualen Stimmenanteile verwendet werden, so dass auch die unterschiedliche Anzahl der Wahlberechtigten in den Wahlkreisen einen großen Einfluss darauf hat, wer ins Parlament kommt.

  4. Du schreibst, dass bei einem reinen Verhältniswahlrecht der Einluss der Parteien auf die personelle Zusammensetzung der Fraktionen zu groß würde. Dem könnte man abhelfen, indem man den Wählern die Möglichkeit gibt, nicht nur eine Partei zu wählen, sondern auch über deren Kandidatenreihenfolge mitzuentscheiden.

    Besser geeignet als das bekannte Verfahren des Kumulierens und Panaschierens wäre das Präferenzwahlverfahren der Übertragbaren Einzelstimmgebung (htpp://martinwilke.de/stv). Warum? http://martinwilke.de/stv/kritik_am_kumulieren_und_panaschieren.html

    Im übrigen haben die Wähler auch in den Wahlkreisen heutzutage nur wenig wirklichen Einfluss auf die personelle Zusammensetzung des Parlaments. Denn jede Partai hat pro Wahlkreis nur einen Kandidaten, auf dessen Aufstellung die Wähler keinen Einfluss haben. Zudem sind viele Direktkandidaten noch über Listenplätze abgesichert. Und viele Wahlkreise sind fest in der Hand einer Partei – ein sicherer Wahlkreis nimmt sich da nicht viel mit einem sicheren Listenplatz.

  5. Martin Wilke schrieb:

    Verschärfend kommt in Ba-Wü hinzu, dass die absoluten Stimmenzahlen statt der prozentualen Stimmenanteile verwendet werden

    Das wird zur nächsten Wahl (März 2011) umgestellt auf prozentuale Stimmenzahlen.

    Wenn man davon ausgeht, dass die eigene Stimmenzahl nur begrenzt davon abhängt, wer im jeweils anderen Lager (wenn man das wirklich so eng sehen will) kandidiert, ist es bisher Glück/Pech, ob die bspw. 32%, die man erzielt hat, reichen. Durch die Tatsache, dass man auch als Zweiter im Wahlkreis noch in den Bundestag einziehen kann, wenn man ein gutes Ergebnis hat, würde das ein wenig entschärfen.

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