Ein paar Fragen zu Stuttgart 21 und Anmerkungen zu anderen Dingen

Weil man1 bei all diesen Schlichtungen, Pressemitteilungen, redaktionellen Zeitungsartikeln, Gutachten, Gegengutachten, Gegengegengutachten und Stellungnahmen überhaupt nicht mehr durchblickt, wäre ich froh, wenn mir ein paar Fragen beantwortet werden könnten, die sich im Laufe meiner Beschäftigung mit Stuttgart 21 ergeben haben und die vermutlich irgendwo im Dickicht des Papiers so gut versteckt sind, dass ich sie bisher nicht finden konnte.

Vorne weg: Wenn man sich Stuttgart von oben ansieht, finde ich – völlig unbeeinflusst von Fachwissen – die Idee, den Bahnhof nach unten zu legen und die freiwerdende Fläche anderweitig zu nutzen, bestechend. Aber es geht ja nur noch teilweise um den Bahnhof. Ah,die Fragen, richtig:

  • Seit wann ist S21 für das Land unumkehrbar?
  • Seit wann ist S21 für die Stadt Stuttgart unumkehrbar?
  • Seit wann ist S21 für den Bund unumkehrbar?
  • Was war zu diesem Zeitpunkt den jeweiligen Entscheidungsträgern bereits bekannt (Kosten, Nutzen, etc.)

Grundlage dieser Fragen ist der in meinen Augen bemerkenswerte Artikel „Der unheilbare Mangel“ vom 19.10.2010 in der Süddeutschen Zeitung, der versucht, ein wenig Licht ins Dunkel zu bringen.

Der Teil des Protestes, in dem es nicht um den Bahnhof geht, sondern die Art und Weise, wie das Projekt abgehandelt wird, scheint mir aber der bemerkenswertere zu sein.

Oft ist von demokratischer Legitimation die Rede, zum Beispiel hier2 oder hier3 oder hier4. Was auf den ersten Blick wie der perfekte Befreiungsschlag aussieht, entpuppt sich bei näherem Hinsehen als nicht mehr ganz so perfekt, denn es macht dem Souverän5 wieder ein bisschen deutlich, was es eigentlich bedeutet, alle 2-4 Jahre sein Kreuzchen bei Bürgermeister-, Gemeinderats-, Kreistags-, Landtags-, Bundestags- und Europawahlen zu machen.

Man wählt nur ein Gesamtpaket. Von allen Wahlvorschlägen sucht man sich den aus, der am ehesten den eigenen politischen Grundvorstellungen entspricht. Da das bei vermutlich keiner Partei perfekt passt, muss man die eigenen Überzeugungen gewichten und dabei ein paar Kröten schlucken. Die Überzeugung, dass die Wehrpflicht ein Grundpfeiler der bundesdeutschen Geschichte ist und beibehalten werden muss, lässt sich nur ganz schlecht mit der Wahl von Grünen oder FDP in Einklang bringen, die Beibehaltung des Atomkonsenses passt nicht zu einer Wahl von CDU und FDP und so weiter und so fort. Irgendwann bleibt dann eine Partei übrig, bei der man am Wahltag ein Kreuzchen macht.

Dummerweise regieren Parteien in Deutschland oft in Koalitionen, die zudem vor dem Wahltag nicht immer ganz klar sind6. Man weiss nicht so genau, mit wem die von einem selbst gewählte Partei nach der Wahl koaliert und welche Positionen sie dabei über Bord schmeissen muss, um an die Macht zu kommen. Wer 2005 im Bund die SPD gewählt hat, weil er für eine Beibehaltung der Mehrwertsteuer von 16% war, sah sich nach der Wahl ebenso enttäuscht wie der Wähler zur Bürgerschaft 2008 in Hamburg, der sein Kreuzchen bei den Grünen wegen deren Ablehnung des Kraftwerks Moorburg machte. Das zieht sich durch alle Parteien und gilt natürlich auch für den FDP-Wähler, der sein Kreuz bei der Bundestagswahl 2009 wegen eines „einfachen, niedrigen und gerechten Steuersystems“ gemacht hatte und miterleben musste, dass die erste Aktion7eine Verkomplizierung des bereits bestehenden war. Für CDU-oder Linke-Wähler findet sich natürlich auch was.

Wenn man das dann halbwegs mit in seine Überlegungen einbezogen hat, steht das nächste Problem vor der Tür: die Zukunft.

Ein altes Sprichwort8 sagt: „Vorhersagen sind schwierig, besonders wenn sie die Zukunft betreffen“.

Viele Sachverhalte, die ein Parlament entscheiden muss, sind vor dessen Wahl noch gar nicht klar. Wer hätte bei der Bundestagswahl 1987 schon daran gedacht, dass er mit seinem Kreuzchen die Art und Weise der Wiedervereinigung bestimmt, wer hätte 1990 gedacht, dass er über die Einführung einer gemeinsamen europäischen Währung abstimmt oder über die Einführung einer Unionsbürgerschaft? Wer hätte bei der baden-württembergischen Landtagswahl 1992 gedacht, dass er damit über einen unterirdischen Durchgangsbahnhof in Stuttgart abstimmt?

Man kann aus der bisherigen Linie einer Partei nicht unbedingt auf ihre zukünftige schliessen. Wer hätte vorher gedacht, dass die CDU in dieser Legislaturperiode für die Aussetzung der Wehrpflicht stimmen wird, wer hätte je erwartet, dass der erste deutsche Kriegseinsatz nach Beendigung des 2. Weltkriegs unter der Ägide eines bündnisgrünen Aussenministers durchgeführt wird, wer konnte sich ausmalen, dass die Gleichsetzung im Bereich der Sozialhilfe von Arbeitnehmern mit 35 Arbeitsjahren und solchen ohne einen einzigen Tag sozialversicherungspflichtiger Tätigkeit von der guten alten Tante SPD umgesetzt werden würde?

Vermutlich nur wenige und trotzdem wird erwartet, dass wir unser Kreuzchen machen und danach die von uns Gewählten vom Geist der demokratischen Legitimierung umweht werden, der ihre Entscheidungen zu unseren macht.

Doch damit nicht genug, es sollte noch viel schlimmer kommen9:

Wer trifft eigentlich die Entscheidungen, die wir aufs Parlament übertragen haben?

  • Koalitionsausschüsse, die aus 6 Personen bestehen, von denen 3 als Parteivorsitzende nur von ihrer eigenen Partei gewählt wurden, was ein wenig an ihrer demokratischen Legitimierung kratzt.
  • Expertenrunden, die von Leuten eingesetzt wurden, die von Leuten gewählt wurden, die vom Volk gewählt wurden (oder so ähnlich).
  • Mitarbeiter in Ministerien, die von ihren privaten Arbeitgebern dorthin entsand und weiter bezahlt wurden und an Gesetzesvorlagen mitschreiben durften.
  • Grosskanzleien, die von Ministerien die Aufgabe zur Ausarbeitung eines Gesetzes übertragen bekommen haben (und 100 Millionen EUR).
  • Der EU-Ministerrat, der Richtlinien beschliesst, die dann von sich „normativ unfrei“10 fühlenden Abgeordneten in deutsches Recht umgesetzt werden.

Also muss man sich eigentlich gar nicht auf die Partei als solches konzentrieren, sondern auf die Führungspersonen11, denn am Ende wird der Hinterbänkler so abstimmen wie es der Fraktionsvorsitzende in der Sitzung erklärt hat. Wobei diese Erklärungen ein bisschen an George Orwells Farm der Tiere erinnern: Eigene Vorschläge gut, andere Vorschläge schlecht (Gut bei George Orwell sind es 4 Füsse, die gut sind und 2, die schlecht sind, aber der Grundgedanke ist der gleiche).

Aber was soll so ein armer Abgeordneter auch machen. Er hat ja gar nicht die Möglichkeit alle Themen vertieft zu kennen, über die er abstimmen muss.

Vom Aufenthaltsrecht bis zum Zwischenlager für atomaren Sondermüll, von der Bankenrettung bis zur Privatisierung der Bahn reicht seine Entscheidungs-Kompetenz. Wie weit sein Wissen dazu reicht, bleibt oft im Nebel12. So ein Abgeordneter muss sich also auf Zuträger verlassen, die oft nur insoweit demokratisch legitimiert sind, als sie von einem gewählten Volksvertreter ausgesucht wurden. Er muss sich auf seine Kollegen in den anderen Ausschüssen verlassen und übernimmt selbst ein Gebiet, welches mit seiner vorherigen Tätigkeit(so er denn überhaupt eine hatte) oft nur wenig zu tun hat13.

Am Schluss bleibt dann die Erkenntnis, dass sich ein Abgeordneter schon rein zeitlich nur um vielleicht 1-5% der Dinge kümmern kann, über die er abstimmt14, bei allen anderen Sachen hat er nicht nur sein Abstimmungsverhalten an die Fraktionsvorsitzende delegiert, sondern auch den ganzen Rest. Seltsam genug, dass manchem da noch so viel Zeit für anderes bleibt, bzw. dass man sich statt einer Erhöhung dieses Prozentsatzes lieber zu hochbezahlten Vorträgen einladen lässt15.

Das alles könnte den Leuten durch den Kopf gehen, bevor sie am 27. März in die Wahlkabine aufbrechen, um ihr Kreuzchen zu machen oder es sein zu lassen, weil es ja doch nichts bringt. Die nächste Landtagswahl in Baden-Württemberg ist komplett unübersichtlich. Koalitionen, die aufgrund der aktuellen Umfragen möglich scheinen, finden sich wie Sand am Meer. Schwarz-Grün, Schwarz-Rot, Grün-Rot, Rot-Grün. Auch Schwarz-Gelb ist noch nicht komplett vom Tisch, denn gerade bei Wahlen mit niedriger Wahlbeteiligung entscheidet oft die Mobilisierungsfähigkeit der eigenen Anhängerschaft.

Was bekomme ich in den nächsten 5 Jahren, wenn ich in 150 Tagen mein Kreuz bei CDU, SPD, FDP, Grünen oder Linken mache? Also mal abgesehen von Stuttgart 21, was mich als Badner, der in Oberschwaben lebt, sowieso nur ganz am Rande berührt. Welches Schulsystem wird eine neue Landesregierung einführen (das trifft mich als Vater von 2 Kindern im Alter von 5 und 7 Jahren schon mehr), wie sieht es mit der zunehmenden Verbotsdichte aus, gibt es Bewegung bei der Erleichterung von Volksentscheiden und Bürgerbegehren, wird sich eine neue Landesregierung endlich dazu durchringen, ein Informationsfreiheitsgesetz zu erlassen, …?

Fragen über Fragen, aber dieser blog heisst ja aus einem bestimmten Grund so wie er heisst 🙂

Und zum Schluss noch etwas 162 Jahre altes aus meiner alten Heimat:

Die Last der Abgaben erdrückt das Volk; ein gedrücktes Volk aber ist nie frei. Und wenn seine Führer glauben, das Volk sei zufrieden mit den schönen Reden, wenn sie glauben, es lasse sich heute noch länger vertrösten und hinhalten, so wird es sich bald zeigen, daß sie sich irren, und daß das Volk sich von den bisherigen Führern trennt und auf eigene Faust handelt.
Wir werden unter der bisherigen Fürstenherrschaft also weder frei, noch einig, noch wohlfeil regiert sein. Darum Volk mahne deine Führer ernsthaft: Muth und Entschlossenheit zu zeigen oder handle selbst.

Fort mit den Fürsten und ihrem Anhang; wir wollen uns selbst regieren, einig, frei und wohlfeil.

Es lebe die Republik.

Die Titel der Herrschenden haben sich geändert, der Rest bleibt scheinbar gleich.

  1. also zumindest ich []
  2. http://de.news.yahoo.com/17/20101013/tbs-staedtetagspraesident-sieht-stuttgar-a704da0.html []
  3. http://www.birgit-arnold.de/fileadmin/user_upload/presse/10_10_05_WN_Stgt21.pdf []
  4. http://www.stuttgarter-zeitung.de/stz/page/2652168_0_9223_-interview-mit-stefan-mappus-s-21-ist-demokratisch-legitimiert-.html []
  5. ich weiss, inoffiziell sind wir nur am Wahltag der Souverän, davor und danach nur der Druck der Strasse, dem man nicht nachgibt, oder eine blosse Meinungsumfrage, an der man nicht seine Politik ausrichtet []
  6. z.B. die Ampel im Saarland, oder die grosse Koalition im Bund 2005 []
  7. die übrigens schon jahrelang im Parteiprogramm der FDP steht, aber das nur am Rande []
  8. welches wohl sowohl Mark Twain als auch Winston Churchill, Karl Valentin und Kurt Tucholsky angedichtet wird []
  9. eine kleine Reminiszenz an Blumentopf: http://www.youtube.com/watch?v=7wxDyP4ckOQ []
  10. um mal Christian Ströbele anlässlich seines Abstimmungsverhaltens zum europäischen Haftbefehl zu zitieren []
  11. auch wenn das bei der SPD zeitweise aufgrund der Fluktuationen an der Spitze ein wenig schwierig war []
  12. wenn nicht mal wieder ein Fernseh-Team nach einer Abstimmung die Abgeordneten dazu interviewt, über was sie eigentlich gerade abgestimmt haben. Fremdschämen auf hohem Niveau []
  13. was einen als Erzieher und Kinderpfleger dazu qualifiziert, im deutschen Bundestag im Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung zu sitzen, weiss vermutlich auf Anhieb ebensowenig jemand wie die Antwort auf die Frage, was einen Sport- und Englischlehrer dazu befähigt, Mitglied im Wirtschafts- und Technologieausschuss des Bundestages zu sein []
  14. in dieser Bundestags-Legislaturperiode, die gerade etwas älter als ein Jahr ist, sind wir gerade bei der Drucksachennummer 3414 (in Worten Dreitausendvierhundertvierzehn), darunter so Wortmonster wie das Jahressteuergesetz 2010 mit 104 Seiten BT 17/2249, in dem unter anderem so illustre Dinge geregelt werden wie die Steuerbarkeit von Transferentschädigungen für den Wechsel eines Sportlers von einem nicht im Inland ansässigen Verein zu einem im Inland ansässigen Verein []
  15. also wirklich seltsam ist es natürlich nicht. Ganz altruistische Menschen erlangen vermutlich kein Mandat und bei allen anderen ist es irgendwie nachvollziehbar. []

2 Gedanken zu „Ein paar Fragen zu Stuttgart 21 und Anmerkungen zu anderen Dingen“

  1. Nachdem Du die CSU in Deinem Artikel nicht erwähnst scheint das die noch einzige wählbare „Alternative“ zu sein (zumindest in Bayern) …. 🙂

  2. Wenn das Volk ein kluges und gebildetes, ja wohlhabendes Volk wäre, dann würde ich nach Volksentscheiden rufen. Da man aber Bildungsmittel kürzt und das Volk doof hält, wäre sowas der erste Schritt in den Abgrund. Es bleibt also vorerst die gesunde Skepsis zur Tagespolitik und die Hoffnung, dass wenigstens die 1-5% der Abstimmungen bei denen die Leute wissen was sie tun gut verlaufen.

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