Gestern hatte ich eine nette Unterhaltung zum Thema Laufen und meinem Laufstil. Ich persönlich käme ja nie auf die Idee, das was ich mache als Laufstil zu bezeichnen, aber gehen wir der Einfachheit halber mal davon aus, dass es doch einer ist.
Es gibt Menschen, bei denen unterscheiden sich die 5-Kilometer-Splits innerhalb eines Marathons um gerade mal 5 Sekunden. Die laufen die Kilometer 37 bis 42 in der gleichen Zeit wie die Kilometer 0 bis 5 oder jedes andere beliebige 5 Kilometer Intervall dazwischen.
Ich schaff‘ so kleine Differenzen nicht mal bei zwei aufeinanderfolgenden Kilometern. Das liegt zum einen daran, dass ich überhaupt kein Gespür für Geschwindigkeiten habe und zum anderen daran, dass ich auch 42 Kilometer auf Sicht laufe. Was ich habe, das habe ich, wer weiß, wie lange es hält.
Alle, wirklich ausnahmslos alle Auswertungen zu Langstreckenläufen zeigen, dass man damit nicht die bestmögliche Zeit erreicht, sondern halt irgendeine beliebig schlechtere.
Stellt sich also die Frage, ob ich das ändern möchte. Meine Lauf-App kann zum Beispiel meine Geschwindigkeit kontrollieren und mir mitteilen.
Aber einerseits will ich mir von so einem Stück Software nicht 5 Kilometer lang sagen lassen, dass ich zu schnell bin (gut, ich will mir eigentlich nicht 37 Kilometer lang sagen lassen, dass ich zu langsam bin) und andererseits lebe ich mein Leben schließlich auch nur auf Sicht.
Variatio delectat
Das ist keine Sexpraktik, das ist Latein. Gut, es könnte natürlich auch beides sein, Fellatio und Cunnilingus sind das schließlich auch. Aber in diesem Fall ist es nur Latein und bedeutet „Abwechslung erfreut“.
Ich hatte in meinem ersten Studium einen Kommilitonen, der hatte sein ganzes Leben schon geplant. Abschluss mit 25, im Anschluss eine gut dotierte Ingenieursstelle, Teamleiter mit Anfang 30, Abteilungsleiter mit Ende 30, Aufstieg ins obere Management ab Mitte 40. Als ich das letzte Mal geschaut habe, hat er sich zeitlich ziemlich genau an den Plan gehalten. Der würde sicherlich sekundengenaue 5-Kilometer-Splits hinbekommen. Aber so könnte ich das nicht.
Ich habe in meinem Leben zwar auch ein paar große Pflöcke eingeschlagen, Familie, Freunde, Haus. Aber das war es dann im Großen und Ganzen auch mit den schweren Geschützen. Der Rest hat mehr die Größe von Zeltheringen; leicht zu setzen, leicht zu entfernen.
Das bringt mir an der ein oder anderen Stelle den „Vorwurf“1 ein, ich würde immer so radikale Kurswechsel vollziehen und Schnellschüsse produzieren. Um einen radikalen Kurswechsel vollziehen zu können, müsste ich erst Mal einen Kurs haben und nicht bloß eine ungefähre Richtung. Und bei den Schnellschüssen habe ich festgestellt, dass es für mich selten besser wird, wenn ich es tausend Mal hin und her überlege und anpasse. Außerdem bin ich ziemlich schnell im Denken, das sieht nur manchmal von außen so aus, als hätte ich mir nichts überlegt.
Ja, nicht immer das richtige und so retrospektiv betrachtet gab es die ein oder andere Sache, bei der 5 Minuten weiteres überlegen vielleicht den entscheidenden Unterschied zwischen „Desaster“ und „Wow“ gemacht hätten. Andererseits hätte ich dann vermutlich viele Dinge die wirklich klasse waren nicht gemacht, weil sie am Anfang ganz viele Unwägbarkeiten beinhaltet haben und vernünftige Menschen mit altersadäquaten Entscheidungsfindungsprozessen darauf verzichtet hätten, es auch mal auf gut Glück zu probieren. Falls sich übrigens jemand fragt, was denn um alles in der Welt ein altersadäquater Entscheidungsfindungsprozess ist: „Scheiß drauf, ich mach’s jetzt einfach“ ist auf jeden Fall keiner.
Wirklich bereut habe ich bisher noch nichts. Ein paar Sachen tun mir leid, aber das sind hauptsächlich die Begebenheiten, bei denen ich das Leben anderer mit der Feinfühligkeit einer Horde heranstürmender Hunnen gestreift und manchmal auch überrannt habe, oder andere etwas davon abbekommen haben, dass ich mir mit einer gewissen Regelmäßigkeit selbst im Weg stehe. Ansonsten gebe ich meinem Leben einfach die Chance, mich auch positiv zu überraschen. Das gelingt ihm auch nach Jahrzehnten erstaunlich oft.
Um jetzt wieder die Kurve zum Laufen zu bekommen: Ich freue mich einfach über jeden Kilometer, den ich nicht gehen muss, ohne vorher schon zu wissen, wann der Zeitpunkt kommen wird, zu dem ich es dann doch muss. In Gedanken nehm‘ ich mein großes Laufvorbild mit und über die ersten Ermüdungserscheinungen wird mich ihr „Nein, nicht gehen, langsam weiterlaufen und atmen“ hinwegtragen. Wenn dann die Mitochondrien echt nicht mehr wollen, kommt noch ein gedankliches Augenrollen ihrerseits und ein weiterer gelaufener Kilometer meinerseits dazu. Ich konnte ja leider keinen davon überzeugen, mitzugehen und wenigstens am Strassenrand zu stehen, was vielleicht noch mal einen Kilometer ausgemacht hätte. Aber selbst wenn, irgendwann würde auch das nicht mehr reichen. Einen Teil der Strecke werde ich gehen.
Ich habe mir allerdings fest vorgenommen, den letzten Kilometer wieder zu laufen, da geht’s durchs Brandenburger Tor und im Ziel werden auch noch von den 5-Stunden-Läufern Fotos gemacht. Und wenn ich eins aus den gefühlt zweitausend Powerpoint-Präsentationen, die ich innerhalb letzten 5 Jahre entweder gemacht habe oder anschauen durfte, gelernt habe, dann ist es das, dass es immer und fast ausschließlich darauf ankommt, wie man es verkauft. Inhalt wird völlig überbewertet.
Ich habe allergrößten Respekt vor all den fokussierten Läufern, die ein Ziel vor Augen haben, monatelang darauf hinarbeiten und das dann mit der gewünschten Marathonzeit krönen.
Wirklich.
Ich kann das halt nicht und deshalb gibt’s bei mir ein Duchgewurschtle und am Ende hoffentlich irgendwann das Überschreiten der Ziellinie vor dem Besenwagen.
Und wenn jetzt einer denkt „ach komm, der will sich doch nur das zu erwartende schlechte Ergebnis in Berlin schönreden“
Stimmt. Noch so was, was ich besser kann als Laufen: Ergebnisse schönreden.
- die Person, für die ich das Wort in Gänsefüsschen gesetzt habe, weiß hoffentlich wie ich das meine [↩]