Anhörung im Innenausschuss zur Wahlrechtsreform

Heute war im Innenausschuß eine Anhörung zur Wahlrechtsreform. Als Sachverständige eingeladen waren (in Klammern der Beruf):

1. Prof. Dr. Bernd Grzeszick Universität Heidelberg (Jurist)

2. Prof. Dr. Heinrich Lang Universität Greifswald (Jurist)

3. Prof. Dr. Dr. h.c. Hans Meyer Humboldt-Universität zu Berlin (Jurist)

4. Prof. Dr. Friedrich Pukelsheim Universität Augsburg (Mathematiker)

5. Prof. Dr. Ute Sacksofsky Goethe-Universität Frankfurt am Main (Juristin)

6. Prof. Dr. Frank Schorkopf Georg-August-Universität Göttingen (Jurist)

7. Prof. Dr. Gerd Strohmeier Technische Universität Chemnitz (Politikwissenschaftler)

8. Tim Weber Mehr Demokratie e. V., Bremen (Politikwissenschaftler)

Also gerade mal einen, der rechnen kann. Schade. Dementsprechend fallen dann auch die Stellungnahmen aus.

Die in meinen Augen wichtigste Problematik

ich weiss nicht, wem meine Stimme zu Gute kommt

kommt leider nur am Rande zur Sprache.

Dabei kann man das ganze an einem recht einfachen – auch für Politiker und Juristen verständlichen – Beispiel verdeutlichen.

Bisher wird zuerst auf Bundesebene an die Parteien verteilt und dann innerhalb jeder Partei auf die Bundesländer.

Laut Koalitionsentwurf soll zuerst auf die Länder anhand der Wahlbeteiligung und danach auf die Parteien verteilt werden.

 

Nehmen wir mal an, es gäbe nur 2 Bundesländer (Blauland und Gelbland) und 2 Parteien (Die Blockflöten und die Geiger).

Der Bundestag hat 200 Mandate zu vergeben, in Blauland haben 1000 Leute gewählt und in Gelbland 1758.

Das ergibt dann 127 Mandate für Gelbland und 73 für Blauland.

In Blauland haben 600 Menschen die Blockflöten gewählt und 400 Menschen die Geiger.

Das ergibt dann 44 Sitze für die Blockflöten und 29 Sitze für die Geiger.

In Gelbland haben 800 Menschen die Blockflöten und 958 die Geiger gewählt.

Das ergibt dann 58 Sitze für die Blockflöten und 69 Sitze für die Geiger.

Jetzt schauen wir mal, was passiert wäre, wenn ein wahlmüder Blockflötenwähler in Gelbland doch wählen gegangen wäre, also die Zahl der Wähler in Gelbland auf 1759 erhöht hätte und dort die Stimmen für die Blockflöten auf 801.

Das ergibt dann 128 Mandate für Gelbland und 72 für Blauland.

Das ergibt in Gelbland 43 Sitze für die Blockflöten und 29 Sitze für die Geiger (Die Blockflöten verlieren einen Sitz).

Das ergibt in Blauland 58 Sitze für die Blockflöten und 70 Sitze für die Geiger (Die Geiger gewinnen einen Sitz).

Durch die Wahl der Blockflöten verliert die Partei einen Sitz und die Partei der Geiger gewinnt einen. Das ist so bestimmt nicht gedacht.

Durch die Erhöhung auf 16 Bundesländer und 5 Parteien wird das ganze ein wenig komplexer, das Grundproblem bleibt.

Durch meine Stimme kann es sein, dass mein Bundesland einen Sitz mehr bekommt. Welche Partei den allerdings bekommt, ist Zufall. Gleichzeitig verliert ein Bundesland einen Sitz. Welche Partei ihn dort verliert, ist allerdings Zufall.

Die Sitzung kann man sich übrigens hier anschauen:

http://dbtg.tv/cvid/1306498

Offener Brief an Dr. Günter Krings, MdB

Sehr geehrter Herr Krings,

in der ersten Lesung des von Ihnen eingebrachten Gesetzesentwurfs, sagten Sie in der Plenardebatte am 30.06.2011 unter anderem folgendes1:

denn wir beseitigen das negative Stimmgewicht nach den Anforderungen des Bundesverfassungsgerichts. In dem entsprechenden Urteil wurde festgestellt, akzepta­bel sei ein negatives Stimmgewicht allenfalls in selte­nen, unvermeidbaren Ausnahmefällen. In diesem Sinne beseitigen und verhindern wir das negative Stimmge­wicht ausnahmslos im Regelfall. Nur bei nicht lebensnaher, unrealistischer Betrachtung kann dieser Effekt eintreten.

Diese Aussage überrascht mich ein wenig.

Wenn man die letzte Bundestagswahl unter der Prämisse des von Ihnen vorgeschlagenen Wahlrechts betrachtet, dann gäbe es unter anderem folgendes Paradoxon:

Wenn in Sachsen-Anhalt 6’890 SPD-Wähler zuhause geblieben wären, dann hätte Sachsen-Anhalt einen Sitz an ein anderes Bundesland verloren. Welche Partei diesen Sitz verliert, ist prinzipiell zufallsbedingt, ebenso wie das Bundesland, das den Sitz gewinnt und welche Partei diesen Sitz dort besetzen darf. In diesem Fall wäre es 2x die Linke und Nordrhein-Westfalen.

Das gleiche gilt für Bremen und 13’796 SPD-Wähler. In Bremen hätte dann die FDP ein Mandat verloren. Das zusätzliche Linke-Mandat in Nordrhein wäre gleich geblieben.

Sollte der Entwurf der Koalition Gesetz werden, dann weiss ich als Wähler zukünftig nicht, ob meine Stimme dafür sorgt, dass mein Bundesland einen Sitz mehr erhält und an welche Partei dieser Sitz gehen würde, ausserdem weiss ich nicht, welche Partei in welchem Bundesland dadurch einen Sitz verliert. Ich finde das nicht unrealistisch oder lebensfern.

Ein weiterer Punkt ist die völlige Veränderung von Auswirkungen von Zweitstimmen bei Überhangmandaten. Bisher war es möglich, dass eine Zweitstimme für die CDU in einem Bundesland mit Überhangmandaten für die CDU dafür gesorgt hat, dass die CDU in einem anderen Bundesland einen Sitz verliert. Zukünftig kann die CDU zwar direkt keinen Sitz mehr verlieren, allerdings kann es sein, dass durch eine Zweitstimme für die CDU eine andere Partei einen Sitz in meinem Bundesland gewinnt und deswegen die CDU (oder irgendeine andere Partei) in einem anderen Bundesland einen Sitz verliert. Der Effekt kann sich also verdoppeln.

Dieser Gesetzentwurf löst kein Problem, er weitet die Problematik des negativen Stimmgewichts vielmehr auf alle Parteien aus.

 

mit freundlichen Grüßen

Markus Ritter

  1. Plenarprotokoll 17/117 []

meine peinliche Bundestagsfraktion

heute hat die Regierungskoalition einen Gesetzentwurf zur Änderung des Bundeswahlgesetzes eingebracht (BT 17/6290) weil vor knapp drei Jahren das Bundesverfassungsgericht entschieden hat, dass

§ 7 Abs. 3 Satz 2 in Verbindung mit § 6 Abs. 4 und 5 des Bundeswahlgesetzes (BWG) [..] die Grundsätze der Gleichheit und Unmittelbarkeit der Wahl nach Art. 38 Abs. 1 Satz 1 des Grundgesetzes [verletzt], soweit hierdurch ermöglicht wird, dass ein Zuwachs an Zweitstimmen zu einem Verlust an Sitzen der Landeslisten oder ein Verlust an Zweitstimmen zu einem Zuwachs an Sitzen der Landeslisten führen kann.

(BVerfG, 2 BvC 1/07 vom 3.7.2008)

Lassen wir mal komplett aussen vor, dass das Bundesverfassungsgericht den 30. Juni 2011 nicht als Beginn einer Gesetzesinitiative zur Anpassung des Wahlrechts angegeben hat, sondern als spätesten Zeitpunkt, zu dem der verfassungswidrige Zustand beseitigt sein muss. Übersehen wir mal grosszügig, dass das Bundesverfassungsgericht diese lange Frist gegeben hat, weil

Dem Gesetzgeber [..] damit auch die Möglichkeit genommen [wäre], das für den Wähler kaum noch nachzuvollziehende Regelungsgeflecht der Berechnung der Sitzzuteilung im Deutschen Bundestag auf eine neue, normenklare und verständliche Grundlage zu stellen.

(ebda., Absatz 144)

Betrachten wir nur ganz kurz, ob der vorliegende Gesetzentwurf die Mindestanforderungen des Bundesverfassungserichts erfüllt

Ein Wahlsystem, auf dem die Mandatsverteilung beruht, muss grundsätzlich frei von willkürlichen und widersinnigen Effekten sein

(ebda., Absatz 105)

Und das tut er nicht, wie man durch einfaches Nachdenken und ein wenig Rechnen herausbekommen könnte, wenn man denn wollte und nicht auf den grossen Koalitionspartner hören müsste, der Angst um seine Überhangmandate hat.

Die Regierungskoalition dreht Ober- und Unterverteilung einfach um.

Bisher war es so, dass zuerst geschaut wurde, wieviele Sitze bekommen die einzelnen Parteien und dann hat man die Sitze einer Partei auf die einzelnen Bundesländer verteilt.  Jetzt sollen die Sitze zuerst auf die Bundesländer verteilt werden und dann diese Sitze im Bundesland auf die einzelnen Parteien.

Wie man ganz einfach feststellen kann,  erhöht eine abgegebene Stimme, dass das eigene Bundesland evtl. mehr Abgeordnete in den Bundestag schicken darf. Das bedeutet aber nicht, dass das auch ein Abgeordneter der gewählten Partei ist. Im Gegenzug verliert ein Bundesland einen Sitz, wobei ebenfalls völlig unklar ist, welche Partei diesen Sitz zugewiesen bekommen hätte. Ein negatives Stimmengewicht ist mit dem Gesetzentwurf auch dann möglich, wenn es zu gar keinen Überhangmandaten kommt.

Ein weiterer, bisher meines Erachtens noch nicht wirklich betrachteter Aspekt ist der, dass bei klaren Koalitionsaussagen vor einer Wahl die Wähler einer Überhangverdächtigen Partei den potenziellen Koalitionspartner wählen können, ohne dass das der eigentlich präferierten Partei schadet. Bei der letzten Wahl hätten in Baden-Württemberg alle, die mit der Erststimme CDU gewählt haben mit der Zweitstimme die FDP wählen können, ohne dass die CDU dadurch auch nur einen einzigen Sitz verloren hätte, die FDP hätte aber in Ba-Wü 50 Sitze mehr bekommen.

Trotzdem stehen sie alle da vorne, die Redner der Regierungskoalition und erzählen Lügen. Oder sie sind dumm. Oder uniformiert.

Alles keine  Eigenschaften, die ich mir von Abgeordneten wünsche, die unter anderem mittlere 3-stellige Milliardenbeträge für die nächsten Jahrzehnte in irgendwelche Rettungsschirme parken und darüber entscheiden müssen, wie die Zukunft des Euro aussieht. Wenn diese Menschen schon an einem einfachen Dreisatz scheitern, wie kompetent sind sie dann bei komplexeren Sachverhalten?

(Titel des Blogbeitrags in Anlehnung an die australische Jugendserie „meine peinlichen Eltern“)