Ich wollte nichts zu Stuttgart 21 schreiben.
Ich wollte wirklich nichts zu Stuttgart 21 schreiben, aber der CDU-Fraktionsvorsitzende im baden-württembergischen Landtag Peter Hauk hat es geschafft, mich umzustimmen.
Wer ihn gestern in der Sendung „Zur Sache – Baden-Württemberg extra“ gesehen hat kann mir vielleicht nachfühlen.
Ich kann ja verstehen, dass Herr Hauk ein bisschen frustriert ist, dass es keine Steinewerfer gab, dass die gezeigten Bilder fast immer Menschen zeigten, die man gemeinhin nicht unter der Bezeichnung „Berufschaoten“ zusammenfassen würde. Ich kann völlig nachvollziehen, dass Herrn Hauk dieses dumme Internet auf den Senkel geht, weil plötzlich die Bilder nicht mehr kontrolliert werden können, sondern jeder ungefiltert seine Version der Wahrheit in den Äther posaunen kann.
Was vor 25 Jahren vielleicht noch akzeptiert wurde „die Polizisten haben Pfefferspray nur zur Selbstverteidigung eingesetzt“, wirkt angesichts der vielen Videos, in denen Polizisten unmotiviert und teilweise aus der zweiten Reihe auf auf dem Boden sitzende Demonstranten zielen und sie einnebeln, ein wenig bizarr.
Mag sein, dass die Anwendung unmittelbaren Zwangs durch die Polizei zur Auflösung einer nicht-genehmigten Demonstration auch die Anwendung von Reizstoffen beinhaltet, das war den braven Schwaben bisher aber so nicht bewusst.
Deshalb hat sich Baden-Württemberg entschlossen, eine Bundesratsinitiative zu starten, um Artikel 8 des Grundgesetzes zu ändern. Der geänderte Artikel soll laut Innenminister Heribert ‚Bernd‘ Rech wie folgt lauten:
Artikel 8 Grundgesetz n.F.
(1) Alle gesunden Deutschen über 18 Jahre haben das Recht, sich ohne Anmeldung oder Erlaubnis friedlich und ohne Waffen zu versammeln.
(2) Für Versammlungen unter freiem Himmel kann dieses Recht durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes beschränkt werden.
(3) Demonstrationen, die geeignet sind aufzufallen, aufgrund eines Gesetzes in die Uckermark verlegt werden.
Ich habe immer noch keine Meinung zu Stuttgart 21.
Ich weiss nicht, ob ich den Befürwortern glauben soll, die daraus eine halbe Wiedergeburt der schwäbischen Mobilität machen wollen, einen Quantensprung des öffentlichen Verkehrs in und für ganz Baden-Württemberg, oder den Gegnern, die Stuttgart schon halb überflutet sehen, durch Anhydrit-Quellungen zerstört, mit verseuchten Mineralquellen, während eine paar reiche Säcke Milliarden mit dem angehängten Immobilienprojekt einstecken. Ich weiss es nicht.
Worüber ich mir eine Meinung gebildet habe, ist die Vorgehensweise sowohl der Gegner als auch der Befürworter des unterirdischen Durchgangsbahnhofes.
An die Adresse der Befürworter: Stümper! Wenn es ein Handbuch gäbe „so ruinieren sie ihre Projekte durch undurchsichtiges Gebaren und halbherzige Informationspolitik“, dann würde Stuttgart 21 vermutlich die Hälfte des Umfangs ausmachen. Vermutlich wäre mir an Stelle der Befürworter des Projekts auch Angst und Bange, wenn ich die aktuellen Umfragen anschauen würde und mir vergegenwärtigen müsste, dass die 56-jährige Präsenz meiner Partei in der Landesregierung unter Umständen in 6 Monaten zu Ende geht. Wahrscheinlich würde ich auch versuchen, Fakten zu schaffen, die die Errichtung des Durchgangsbahnhofs alternativlos machen. Ich würde auch versuchen, die Demonstranten zu marginalisieren und kriminalisieren, weil das in einem eher konservativ geprägten Bundesland vermutlich Stimmen bringt. Vermutlich würde ich aber nicht Menschen wie Herrn Hauk, Herrn Rech und Herrn Keilbach vor Kameras stellen, die teilweise den Eindruck erweckten, als hätten eine klammheimliche Freude an der Entwicklung. Da nimmt man jemanden, der wirklich schockiert ist über das Ausmass an Gewalt, aber doch nicht jemanden, der froh ist, dass zumindest der zweite Teil des Plans aufzugehen scheint.
Wenn ich von den Unterstützern dann Kommentare in der Form
Die meisten Demonstranten sind sicher nicht aus der Region Stuttgart sondern kommen aus ganz Deutschland als Reisedemonstranten zur Demo, denen es nicht um das Projekt, sondern um eine politische Aussage gegen den Staat/Regierung geht. Endlich kann man sich mal wieder mit der Polizei kloppen
lesen muss, dann frage ich mich schon, welche Bilder diese Menschen gesehen haben. Zumindest ich habe gestern keinen einzigen prügelnden Demonstranten gesehen, nur verprügelte. Die Geschichte mit den steinewerfenden Demonstranten, die Herr Hauk noch um 20.40 Uhr im Fernsehen angeführt hat, wurde mittlerweile auch zurückgezogen. Was bleibt? Dass sich die Maso-Szene Deutschlands zum alljährlichen Happening dieses Mal den Stuttgarter Schlosspark ausgesucht hat, um sich kollektiv von Männern in Leder und mit Masken zünftig verprügeln zu lassen, mag ich nicht ganz glauben.
An die Adresse der Gegner: Chapeau!
Die Lufthoheit über die Bilder und ihre Interpretation habt ihr erreicht. Man diskutiert über prügelnde Pfefferspray-Polizisten und nicht über die Frage, wie denn eine gewaltfreie Räumung des Schlossparks hätte aussehen können.
Die Bilder, die man sieht, zeigen ganz normale Menschen, die meine Oma, mein Neffe, mein Arbeitskollege sein könnten. Diese Bilder gleichen in Nichts den Bildern, die man rund um den 1. Mai aus dem Hamburger Schanzenviertel oder Berlin-Kreuzberg zu sehen bekommt. Keine Jugendlichen, die auf Randale aus sind, sondern die Frau Meier von nebenan, die Samstags immer schön Kehrwoche macht und jetzt durchnässt und mit Pfefferspray-Augen die Welt nicht mehr versteht.
Sicherlich wissen viele Menschen, die da demonstriert haben sehr wenig über das Gesamtkonzept oder die Gesamtzusammenhänge bezüglich der Finanzierung, über geologische Besonderheiten des Stuttgarter Talkessels oder eisenbahntechnische Signalanlagen. Das fällt allerdings auch auf die Befürworter von Stuttgart 21 zurück. Und ob aus den Gegnern Befürworter würden, wenn sie alles wüssten, wage ich zu bezweifeln.
So, jetzt weiss ich immer noch nicht, was ich von Stuttgart 21 halten soll, aber wenn die Landesregierung so weitermacht, reicht das schon, um dagegen zu sein.