Landtagswahlen in Baden-Württemberg: wie wird gewählt

Bei trockenen Themen gilt: Visualisieren, visualisieren, visualisieren. Nun denn, es folgt das Landtagswahlrecht in Baden-Württemberg in der Version von 2011 in bunt (ich nehme dafür die Zahlen und die Wahlkreiseinteilung von 2006).

Baden-Württemberger haben bei der Landtagswahl nur eine Stimme. Damit wird sowohl der Direktkandidat im Wahlkreis gewählt, als auch über die Sitzverteilung im Landtag abgestimmt.

Ein typischer Stimmzettel für die Wahl sieht so aus:

stimmzettel

Nachdem die Wahllokale geschlossen sind und die Stimmen ausgezählt, beginnt die Verteilung der Sitze. In einem ersten Schritt, werden jeweils die Stimmen zusammengezählt, die die Parteien landesweit errungen haben. Das ergab 2006 folgendes Bild:

CDU 1’748’766
SPD 996’207
Grüne 462’889
FDP 421’994
Sonstige 330’759

Da in Baden-Württemberg die 5%-Hürde gilt, verteilen sich die Sitze auf CDU, SPD, Grüne und FDP.

Die 120 Sitze werden nach dem Höchstzahl-Verfahren von Sainte-Laguë verteilt. Das klingt ein wenig kompliziert, ist aber ganz einfach. Man nimmt die Stimmen, die die Parteien erzielt haben und teilt diese durch alle ungeraden Zahlen (1,3,5,…). Daraus ergibt sich folgende Tabelle:

Platz Divisor CDU SPD Grüne FDP
1 1 1’748’766 996’207 462’889 421’994
2 3 582’922 332’069 154’296 140’665
3 5 349’753 199’241 92’578 84’399
14 27 64’769 36’897 17’144 15’629
15 29 60’302 34’352 15’962 14’552
16 31 56’412 32’136 14’932 13’613
33 65 26’904 15’326 7’121 6’492
34 67 26’101 14’869 6’909 6’298
58 115 15’207 8’663 4’025 3’670

Jetzt wird die hundertzwanzigst-grösste Zahl gesucht (im oberen Fall die 15’207). Jede Zahl, die grösser ist (gelb unterlegt), wird zu einem Sitz für die Partei, in deren Spalte sie steht. Es ergibt sich das erste (noch vorläufige) Sitzverhältnis:

sitzverteilung baden-württemberg 2006

CDU 58
SPD 33
Grüne 15
FDP 14


Diese Sitze werden für jede Partei auf die 4 Regierungspräsidien Karlsruhe, Freiburg, Stuttgart und Tübingen verteilt. Für die CDU sieht das dann folgendermaßen aus:

Platz Divisor Karlsruhe Freiburg Stuttgart Tübingen
1 1 424’236 343’679 651’530 329’321
2 3 141’412 114’560 217’177 109’774
11 21 20’202 16’366 31’025 15’682
12 23 18’445 14’943 28’327 14’318
13 25 16’969 13’747 26’061 13’173
14 27 15’712 12’729 24’131 12’197
15 29 14’629 11’851 22’467 11’356
22 43 9’866 7’993 15’152 7’659

Jetzt wird die achtundfünfzigst-grösste Zahl gesucht (weil es für die CDU insgesamt 58 Sitze aus der Verteilung auf Landesebene gab). Im oberen Fall ist das die 15’152. Jede Zahl, die grösser ist, wird zu einem CDU-Sitz für das Regierungspräsidium, in dessen Spalte sie steht. Es ergibt sich für die CDU folgende (noch vorläufige) Sitzverteilung auf die einzelnen Regierungspräsidien:

sitzverteilung cdu baden-württemberg

Wenn man das für alle Parteien macht, ergibt sich folgende Tabelle:

Karlsruhe Freiburg Stuttgart Tübingen
CDU 14 11 22 11
SPD 9 6 13 5
Grüne 3 3 6 3
FDP 3 3 2 6


Betrachten wir uns die Sitzverteilung im Regierungspräsidium Freiburg ein wenig näher.

rp-freiburg-ltw06

Wer bekommt jetzt die Sitze, die die einzelnen Parteien errungen haben. Zunächst einmal bekommt jeder Wahlkreisgewinner einen Sitz. Im Falle des Regierungspräsidiums Freiburg haben in allen 14 Wahlkreisen die Kandidaten der CDU gewonnen. Damit jeder Wahlkreis im Landtag vertreten ist, hat man sich in Baden-Württemberg für eine Überhangsregelung mit Ausgleichsmandaten entschieden. Es kommt das bereits bekannte Divisor-Verfahren zum Einsatz.

Platz Divisor CDU SPD Grüne FDP
1 1 343’679 187’333 101’613 85’835
2 3 114’560 62’444 33’871 28’612
3 5 68’736 37’467 20’323 17’167
4 7 49’097 26’762 14’516 12’262
5 9 38’187 20’815 11’290 9’537
6 11 31’244 17’030 9’238 7’803
7 13 26’437 14’410 7’816 6’603
8 15 22’912 12’489 6’774 5’722
9 17 20’216 11’020 5’977 5’049
10 19 18’088 9’860 5’348 4’518
11 21 16’366 8’921 4’839 4’087
12 23 14’943 8’145 4’418 3’732
13 25 13’747 7’493 4’065 3’433
14 27 12’729 6’938 3’763 3’179
15 29 11’851 6’460 3’504 2’960

Die Stimmenzahlen, die die Parteien im Regierungspräsidium erreicht haben, werden durch 1,3,5 … dividiert. Ursprünglich wäre die Verteilung bei 16’366 beendet gewesen, weil alle Parteien die Sitzanzahl erreicht haben, die ihrem Ergebnis entspricht. Da die CDU aber zusätzlich 3 Direkt-Mandate errungen hat (blau unterlegt) werden solange Sitze verteilt, bis die CDU 14 erreicht hat. Dadurch erhalten sowohl die SPD als auch die Grünen einen zusätzlichen Sitz (orange markiert).

Man kann sich das ganze auch so vergegenwärtigen, dass die Zahl 12’729 einen Sitz repräsentiert (weil die CDU 14 Direkt-Mandate errungen hat). Deshalb müssen alle Zahlen, die grösser als 12’729 sind, ebenfalls einen Sitz repräsentieren.

Die CDU-Sitze sind schnell verteilt, jeder Wahlkreisgewinner erhält einen. Wer innerhalb der anderen Parteien die Sitze erhält, ergibt sich aus dem Wahlergebnis der einzelnen Bewerber innerhalb ihres Wahlkreises. Bis 2006 zählte die absolute Stimmenzahl, ab 2011 zählt die relative Stimmenzahl, um auch Bewerbern in kleinen Wahlkreisen die Möglichkeit zu geben, einen Sitz zu erringen.

Für die SPD ergeben sich folgende Prozentzahlen:

Wahlkreis gültige Stimmen SPD-Stimmen %-Anteil SPD
58 62756 19833 31.6%
49 59248 17039 28.8%
47 48150 13584 28.2%
48 67321 17533 26.0%
50 49596 12651 25.5%
59 61232 14781 24.1%
51 46924 10901 23.2%
57 46811 10717 22.9%
46 62386 13881 22.3%
54 58921 12685 21.5%
56 48236 10269 21.3%
55 65547 13351 20.4%
53 54877 10717 19.5%
52 48099 9391 19.5%

Damit ziehen in den Landtag die SPD-Bewerber aus den Wahlkreisen 58, 49, 47, 48, 50, 59 und 51 in den Landtag ein. Zum Vergleich habe ich die Wahlkreisgewinner nach dem bisherigen Verfahren hellgelb unterlegt.

Das macht man in allen 4 Regierungspräsidien und das war dann auch schon alles.

Landtagswahlen 2011 in Baden-Württemberg

Da man zur Erklärung des baden-württembergischen Landtagswahlrechts ein wenig länger braucht, fange ich jetzt schon mal an. In einer kleinen Reihe geht es um Dinge wie:

  • Die CDU hat 2006 gegenüber 2001 an Prozenten verloren und stellt trotzdem fast 10% mehr Abgeordnete (69 statt 63)
  • Die Zahl der gültigen Stimmen sank 2006 gegenüber 2001 um über 12% (von 4’530’763 auf 3’960’615), die Zahl der Abgeordneten stieg um 8,5% (von 128 auf 139).
  • Im Regierungspräsidium Karlsruhe hatte der letzte Grünen-Abgeordnete, der noch einen Platz im Landtag bekommen hat, 7’463 Stimmen, im Regierungspräsidium Tübingen hatten zwei Grünen-Kandidaten jeweils über 10’000 Stimmen und sind trotzdem gescheitert.
  • Den 11 Überhangmandaten der CDU stehen nur 8 Ausgleichsmandate der übrigen Parteien gegenüber (4x SPD, je 2x FDP und Grüne), obwohl die CDU 130’000 Stimmen weniger hatte als die 3 anderen Parteien.
  • Der Wahlkreis Weinheim (WK 39) stellt mit 59’320 Wählern 4 Abgeordnete, der Wahlkreis Ravensburg (WK 69) stellt mit 61’047 Wählern nur einen Abgeordneten.

Manche Dinge erscheinen erst dann verwunderlich, wenn man weiß, dass der Wähler in Baden-Württemberg nur eine Stimme hat (also jeder eine, nicht alle zusammen), dass es keine Landeslisten der Parteien gibt und die Erringung eines Mandats alleine von der (absoluten) Stimmenzahl abhängt, die ein Bewerber in einem Wahlkreis erhält (letzteres zumindest ändert sich zur nächsten Wahl).

Das spannende/ungerechte/seltsame am baden-württembergischen Landtagswahlrecht ist die Tatsache, dass man – bei gleichem Wählervotum – auf ganz unterschiedliche Resultate kommen kann.

  • Würde man die Ausgleichssitze (die aufgrund der CDU-Überhangs bei den Direktkandidaten entstanden sind) nicht auf Regierungspräsidumsebene berechnen, sondern auf Landesebene, hätten SPD, FDP und Grüne jeweils einen Sitz mehr erhalten.
  • Würde man die Zusatzmandate (also die Sitze, die den Parteien aufgrund des Stimmenverhältnisses zustehen) auf Landesebene verteilen und nicht auf Regierungspräsidiumsebene, kämen aus Karlsruhe nur 2 Grünen-Abgeordnete (statt 4) und aus Tübingen 5 Abgeordnete (statt 3). Dafür kämen aus Karlsruhe 2 SPD-Abgeordnete mehr, und aus Freiburg 2 weniger.
  • Hätte man statt nach d’Hondt nach Sainte-Laguë ausgewertet, hätten SPD und FDP im Regierungspräsidium Stuttgart jeweils einen Sitz mehr errungen.

Landtagswahlen 2006 in Baden-Württemberg

Es dauert noch ein bisschen, bis die Baden-Württemberger ihren neuen Landtag wählen dürfen, die ersten Parteien fangen allerdings schon mit der Aufstellung der Kandidaten an. Zeit, sich das letzte Ergebnis ein wenig genauer anzuschauen.

Bei der Landtagswahl am 26. März 2006 zum 14. Landtag von Baden-Württemberg waren 7.516.919 Baden-Württembergerinnen und Baden-Württemberger wahlberechtigt. Aktiv wahrgenommen wurde das Wahlrecht von 4.012.441 Menschen, was einer Wahlbeteiligung von 53,4% entspricht.

nichtwaehler

Aus den 23,26% der Wahlberechtigten, die sich für die CDU entschieden haben, wurden unter Wegfall der Nicht- und Ungültigwähler 44,2%

sonstige

Unter Nichtberücksichtigung der sonstigen Parteien, die an der 5%-Hürde gescheitert sind, konnte die CDU am Ende 49,6% der Sitze im Landtag für sich beanspruchen.

sitzverteilung

 

Das ganze funktioniert natürlich auch mit den anderen 3 Parteien, die den Sprung über die 5%-Hürde geschafft haben. Das Verhältnis von Wählerstimmen zu Wahlerfolg zeigt sich in folgendem Schaubild:

verhaeltnis

 

Nicht wählen zu gehen, ändert nichts an den bestehenden Verhältnissen im Landtag. Die Tatsache, dass im Vergleich zu 2001 über 9% weniger Menschen wählen gegangen sind, änderte nichts an der Anzahl der Landtagsabgeordneten, oder an den Zuwendungen, die die Parteien vom Staat in Form der Parteienfinanzierung erhalten.

  • Der 14. Landtag von Baden-Württemberg hat trotz sinkender Wahlbeteiligung 11 Landtagsabgeordnete mehr als der 13. Landtag.
  • Da die Parteienfinanzierung bei 240 Millionen EUR gedeckelt ist und diese Obergrenze jedes Jahr auch ausgeschöpft wird, bemerken die Bundesgeschäftsführer den Wählerschwund gar nicht in der Kasse.
  • Eine niedrige Wahlbeteiligung stärkt traditionell die Parteien, die ihre Wählerschaft mobilisieren können, was häufig auf Parteien an den demokratischen Rändern zutrifft.

Wahlergebnis schon vergessen?

Wir müssen die Linke unter unserer Führung einbinden, wir müssen sie entzaubern.

Andreas Bausewein, SPD, Oberbürgermeister von Erfurt

Nur falls der Herr Bausewein das Wahlergebnis der thüringischen Landtagswahlen vom 30. August vergessen haben sollte:

  • Die SPD wurde von 195’363 Wählern gewählt und erreichte 18,5% der Stimmen
  • die Linke wurde von 288’915 Wählern gewählt und erreichte 27,4% der Stimmen.
  • Die SPD konnte 2 Wahlkreise für sich entscheiden,
  • die Linke konnte 14 Wahlkreise für sich entscheiden.

Dass die SPD in einer Koalition (rot-rot-grün), in der sie gerade mal 35% der Abgeordneten stellen würde, immer noch von einer Führungsrolle träumt, scheint ein Grund zu sein, warum sie nicht zustande kommt.

In 3 von 5 ostdeutschen Bundesländern stellt die SPD weniger Landtagsabgeordnete als die Linke. Die SPD scheint noch nicht ganz verstanden zu haben, dass die Wähler, wenn sie denn eine SPD-geführte Landesregierung haben wollten, SPD wählen würden und nicht den Umweg über eine Wahl der Linken gingen. Vielleicht reift diese Erkenntnis noch bis zum Jahr 2011 zur Landtagswahl in Sachsen-Anhalt. Dort hätte es übrigens im Jahr 2006 schon zu einer rot-roten Koalition gereicht, aber da die Linke 2 Abgeordnete mehr stellt als die SPD, wäre wieder nur die Juniorpartnerschaft herausgekommen und Juniorpartner will man als SPD wohl nur sein, wenn der grosse Bruder CDU heisst.

[Update]

In der ersten Version dieses Beitrags stand noch, dass Andreas Bausewein Oberbürgermeister von Gera sei. Man soll halt nicht ungeprüft aus Qualitätsmedien abschreiben 🙂

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